Sie war die ältere Cousine einer Freundin und hatte auch Gefühle für mich. Die Tatsache, dass ich mich plötzlich für eine Frau interessierte, empfand ich nicht als irritierend oder ungewöhnlich. Ich empfand dies vielmehr wie eine selbstverständliche Erweiterung meines Begehrensspektrums. Wir kamen am Ende nicht zusammen, weil ich meinen damaligen Freund nicht verlassen wollte. In eine Frau verliebt zu sein, das ging sehr wohl für mich, doch eine feste Beziehung mit einer Frau lag noch weit außerhalb meiner Vorstellungskraft. Auch danach hatte ich lange nur heterosexuelle Beziehungen. Es hat noch weitere zehn Jahre gedauert, bis ich mich dazu entschlossen habe, lesbisch zu leben und meinem Begehren offen nachzugehen.
Ich bin mit einer Clique von Freund*innen groß geworden, die sich, zum Teil schon damals, zum Teil erst später, alle als lesbisch oder queer identifizieren. Mit diesen Menschen erwachsen zu werden war für meinen Selbstfindungsprozess – besonders in der Kleinstadt – von enormem Vorteil. Mir wurde die Normalität nichtheterosexueller Lebensformen täglich vorgelebt. Als ich mich dann als Letzte der Gruppe bei meinen Freund*innen geoutet habe, war niemand wirklich überrascht.
Das Coming-out innerhalb meiner Familie war für mich ebenfalls eine gute Erfahrung. Mein Vater war schon immer sehr offen für vielfältige Lebenskonzepte, daher hatte ich keine besonders große Angst vor diesem Gespräch. Als er mich eines Tages zu meiner damaligen Angebeteten fuhr, habe ich ihm im Auto erzählt, dass wir uns nicht nur zur gemütlichen Pyjamaparty treffen, sondern auch miteinander schlafen. Mein Vater hat offen reagiert und mich nicht in Frage gestellt. „Du kannst zusammen sein, mit wem du möchtest, solange es dir Spaß macht und du glücklich bist“, sagte er. Auch meine Geschwister haben sehr positiv, fast schon stolz auf diese neue Nachricht reagiert. Mein Comingout hat mich meiner Familie viel näher gebracht. Ich kenne aber auch Geschichten von Freund*innen, bei denen das Coming-out nicht so positiv verlaufen ist, und bin daher sehr dankbar, dass ich mit meiner Familie niemals Kämpfe wegen meiner sexuellen Orientierung führen musste.
Seit einigen Jahren identifiziere ich mich nicht mehr als lesbisch, sondern als queer. Streng genommen ist dies zwar nicht möglich, da der Begriff sich eigentlich gerade gegen eine auf Identität basierende Politik wendet, doch queer ist auch einfach ein Sammelbegriff für alle, die nicht ins heteronormative Gesellschaftsmuster passen. Darunter fallen unter anderem Menschen, die sich nicht in Kategorien wie Frau oder Mann, homo- und heterosexuell, trans* oder cis einordnen lassen wollen oder können. Das Konzept von „queer“ stellt Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als repressive Normen infrage und bietet Platz für Alternativen, die leider auch in „traditionellen“ lesbisch-schwulen Zusammenhängen oft nicht mitgedacht werden. Ich fühle mich dem Queer- Begriff einfach mehr verbunden als dem Wort „lesbisch“ – das klingt für mich zu sehr nach „Frau liebt Frau“. Ich begehre und liebe auch Menschen, die sich nicht als Frauen identifizieren und trotzdem nicht als Männer geboren wurden, wie zum Beispiel nichtbinäre oder Trans*- Personen. Nun fühle ich mich ganz so, als sei ich endlich bei mir selbst angekommen, was meine sexuelle Orientierung betrifft. Und das war vielleicht ein langer, aber aufregender Weg.