„Plastic Faces“ werden sie genannt, die maximal Operierten, deren Gesichter an japanische Mangas erinnern. Große, möglichst schwarze Augen, europäisch angehauchte hohe Stupsnasen, ein ovales, v-förmiges Gesicht und eine runde Stirn. Doch derartige Gesichtsmerkmale existieren in Ostasien, in Südkorea eigentlich gar nicht. Sie sind zurechtoperiert – und das massenweise.
Seoul ist nicht nur die Hauptstadt Südkoreas, sie ist auch die Hauptstadt der Plastikgesichter. „Ich habe mich operieren lassen, als ich 18 war“, erzählt die 23-jährige Jeong Ji Hae, die sich eine doppelte Lidfalte hat machen lassen. Ein Merkmal, das in Europa gang und gäbe ist, in Ostasien hingegen eine anatomische Ausnahme. Die Augenoperation ist in Südkorea in manchen Schichten fast so selbstverständlich wie ein abgeschlossenes Studium. „Je früher du das machen lässt, desto natürlicher sieht es aus“, sagt Jeong Ji Hae. „Meine Mutter wollte das, damit ich hübscher aussehe.“
Zum 18. Geburtstag bekommen vor allem junge koreanische Frauen „neue Augen“ oder eine „neue Nase“. Rund 20 Prozent aller Koreanerinnen haben einen Eingriff hinter sich, schätzt die Internationale Vereinigung der Ästhetischen Chirurgen (ISAPS). Mittlerweile nehmen auch die Operationszahlen bei jungen Männern zu.
Asien führt die Liste der plastischen Eingriffe an. 4,3 Millionen Eingriffe wurden laut ISAPS 2011 vorgenommen, das sind rund 29,5 Prozent aller Eingriffe weltweit. Dazu zählen chirurgische ebenso wie nicht operative Eingriffe. Und im asiatischen Vergleich liegen zwar China und Japan in absoluten Zahlen vorne. Doch im Pro-Kopf-Vergleich kommt kein Land an Südkorea heran: 650.000 Eingriffe wurden hier allein 2011 vorgenommen. Neuere Daten sind für Korea nicht verfügbar. Die plastischen Chirurgen seien wohl zu beschäftigt mit Operationen, um Zahlen an die ISAPS zu senden, heißt es von dort.
In Seouls Nobelviertel Gangnam waren bis Anfang des Jahres die U-Bahn-Stationen noch voller Anzeigen mit Vorher-Nachher-Bildern. Sie zeigten Gesichter von Menschen mit teils stark vorgeschobenen Unterkiefern, aber auch schlecht ausgeleuchtet, nicht frisiert und nicht geschminkt. Daneben dieselbe Person nach der Operation. Geschminkt, perfekt frisiert und fachgerecht ausgeleuchtet. Die Message an junge Menschen in Korea: „Auch du kannst erfolgreicher sein – mit ein wenig Willen, dich selbst und dein eigenes Aussehen zu optimieren.“
Dann verbot die südkoreanische Regierung das offensive Werben im März 2014. Kurz zuvor war eine Klinik in Gangnam in die Kritik geraten. Dort hatte man die abgesägten Kieferknochen Hunderter Patienten im Eingangsbereich in einem durchsichtigen „Knochenturm“ ausgestellt. Die Ärzte werben nach den Einschränkungen in den U-Bahn-Stationen natürlich einfach weiter: im Internet.
Daniel Schwekendiek, Professor an der Sungkyunkwan-Universität in Seoul, beschäftigt sich mit der soziokulturellen Entwicklung Südkoreas. In einem 2013 mit zwei Kollegen veröffentlichten Artikel schreibt er, die Wahrnehmung des eigenen Körpers sei ein „modernes soziales Phänomen“ in Südkorea. Kaum eine Gesellschaft auf der Welt ist so homogen wie die koreanische. Hinzu kommt ein gesellschaftlicher Anpassungsdruck: „Wenn es die Stars machen, macht es auch die Allgemeinheit“, sagt Schwekendiek und vergleicht den Trend zur Gesichtsoperation mit der Zahnspange, deren Einsatz Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre das Schönheitsideal in Europa und den USA prägte.
Die gleichzeitig vollzogene Liberalisierung des Gesundheits- und des Mediensystems habe dafür gesorgt, dass sowohl das Angebot als auch die Werbung mehr geworden sei. So sind die plastischen Eingriffe relativ günstig, gleichzeitig ist aber die Qualität recht hoch. Die mehr als 2.000 zertifizierten Chirurgen haben so viele Operationen vorgenommen, dass sie vor Praxiserfahrung nur so strotzen. „Im asiatischen Markt ist Korea spitze, wenn es um Technik geht“, sagt Lee Sang Mock. Er ist der Vorsitzende der koreanischen Vereinigung der plastischen Chirurgen.
In vielen südkoreanischen Unternehmen wird den Mitarbeitern gar geraten, in das eigene Aussehen zu investieren, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Wie Jeong Ji Hae denken viele junge Koreaner genau daran, wenn sie sich unters Messer legen. „Es ist keine Operation, mehr eine kleine Verbesserung“, findet sie. Der Drang, immer noch ein bisschen attraktiver zu wirken, treibt Blüten. Einer der neuesten Eingriffe, das Lifting der Mundwinkel, zum Beispiel. Damit einem nach der Operation das Lächeln nie wieder vergeht.
Mit dem Erfolg koreanischer Popkultur in weiten Teilen Asiens kommen auch immer mehr Schönheitstouristen ins Land. Auf dem Trip nach Seoul wird passend zu neuen Schuhen oder einer neuen Handtasche auch gleich noch eine neue Nase oder ein ganz neues Gesicht mit nach Hause genommen.
So floriert die Schönheitsindustrie weiter. Für einen anderen Berufsstand wird die Entwicklung hingegen langsam zum Risiko: Das Gesichterlesen ist eine Tradition, die in Korea angewandt wird, um Krankheiten zu erkennen oder um auf die Zukunft, Erfolg im Leben und die berufliche Karriere Rückschlüsse ziehen zu können. Man geht davon aus, dass anatomische Merkmale direkt mit den inneren Organen korrespondieren. Doch wegen der starken kosmetischen Veränderungen können die Gesichterleser bei vielen jungen Menschen nichts mehr erkennen. Ihre Gesichter sind zwar schön – aber letztlich nicht mehr als eine Maske.
Malte E. Kollenberg arbeitet als freier Multimediareporter u.a. für „Spiegel Online“, „Voice of America“ und das „Wall Street Journal“.