Europäisches Facebook
Ohne eine europäische Öffentlichkeit gibt es keine lebendige europäische Demokratie, glaubt der Politikberater Johannes Hillje. Und welcher Ort könnte dafür besser geeignet sein als das Internet? In der Athener Demokratie hätten sich die Menschen auf dem Marktplatz zur Willensbildung getroffen. „Europa ist nun einfach sehr viel größer als Athen, und deswegen, glaube ich, bietet der digitale Raum ideale Voraussetzungen dafür, uns zu vernetzen“, sagt Hillje in einem ARD-Interview.
Die Plattform könnte einen Newsroom mit einer eigenen Redaktion, eine Mediathek, Formate für Dialog, Vernetzung und politisches Engagement bieten. Verwaltet würde sie öffentlich-rechtlich, also so wie ARD oder ZDF in Deutschland.
Ein entscheidender Vorteil für Nutzerinnen und Nutzer wäre laut Hillje, dass der Datenschutz auf der „Plattform Europa“ deutlich strenger sein könnte als bei Facebook und Co. Denn private Unternehmen verdienen mit ihren Angeboten Geld. Sie halten sich deshalb meist nur an die niedrigsten gesetzlich vorgegebenen Standards. Ob die Plattform auch genutzt würde, steht natürlich auf einem anderen Blatt. (tm)
Ein Pass für alle
„Ein Leben ohne Grenzen, eine Freedom zu verschenken, eine Freiheit, nicht zu denken“, singt Bilderbuch-Sänger Maurice Ernst. Im „Europa22“-Video dreht sich neun Minuten und 40 Sekunden lang ein Personalausweis im Scheckkartenformat. Die Inhaber sind die Bandmitglieder, ihre Staatsangehörigkeit: EU. Die Idee von den „Vereinigten Staaten von Europa“ inklusive EU-Pass wird auch von proeuropäischen Jugendorganisationen wie den „Jungen europäischen Föderalisten“ unterstützt.
Auf bilderbucheuropa.love kann sich jeder selbst einen solchen Pass (der natürlich nicht gültig ist) ausstellen und herunterladen. Jan Böhmermann hat einen, Sophie Paßmann auch, genau wie Justizministerin Katarina Barley von der SPD.
Der Pass ist umstritten. Kritik kam etwa von der AfD. Sie lehnt es ab, „die EU zu einem Staat mit Gesetzgebungskompetenz und einer eigenen Regierung umzuwandeln, ebenso wie die Idee der ‚Vereinigten Staaten von Europa‘“. Übrigens, auf unseren Reisepässen steht schon jetzt in Gold auf Dunkelrot, erste Zeile: Europäische Union. (tm)
Datenschutz-Set-up fürs Smartphone
Sich selbst schützen, alles verschlüsseln, nichts preisgeben, nirgends teilnehmen: Wer Datenschutz ernst nimmt, fühlt sich manchmal wie ein Geheimagent. Doch das ist weder möglich noch sinnvoll, meint der Wiener Privacy-Aktivist Wolfie Christl. Seine These: Niemand wird seine Daten individuell schützen können. Datenschutz sei ein kollektives Problem, das nur kollektiv gelöst werden kann. Er schlägt ein europäisches Datenschutz-Set-up für Smartphones vor. Die EU sollte die „Entwicklung, Wartung, Zurverfügungstellung und Bewerbung“ eines massentauglichen Set-ups finanzieren. Damit könnten, so der Selbstanspruch, Nutzer*innen ihr Gerät – unabhängig vom Hersteller – in wenigen Schritten gegen Überwachung und Tracking sichern. Die letzte große Datenschutzinitiative der EU ist genau ein Jahr alt: Die DSGVO ist für Christl nur ein Kompromiss, eine Annäherung an einen gesamteuropäischen Datenschutz. (ph)
Europaweite Bürger*innenversammlung
Warum darf es keine europäischen Parteien geben, die gemeinsame Kandidat*innen zur Wahl aufstellen? Diese Frage warf nicht nur Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei seiner berühmten Sorbonne-Rede zur Zukunft Europas auf. Sie ist umstritten; während Kritiker stärkere Nationalstaaten fordern, wollen andere eine stärkere Europapolitik. Auch eine Bürgerinitiative sammelte Unterschriften für diese Idee. Die Abgeordneten würden weniger nationalen Interessen verpflichtet sein und allen Europäer*innen dienen. Die Idee stand im Februar 2018 im Europäischen Parlament zur Abstimmung – und scheiterte.
Daphne Büllesbach, die sich mit ihrem Thinktank „European Alternatives“ für transnationale Listen einsetzt, hat einen noch weitreichenderen Vorschlag. Sie regt an, dass es parallel zum EU-Parlament eine europäische Bürger*innenversammlung geben soll.
Die eine Hälfte der 200 Mitglieder würde über eine Liste gewählt, die andere würde europaweit per Los bestimmt. „Das ist gar nicht so neu und war schon im alten Griechenland üblich“, sagt Büllesbach. Das Gremium käme zusammen, um das EU-Parlament in besonders strittigen gesellschaftlichen Fragen zu beraten – zum Beispiel Steuerflucht oder die Verteilung von Geflüchteten. Für Büllesbach trage dies zu einer europäischen Stimme und damit einer gemeinsamen Öffentlichkeit bei. (np)
Europas Super-Mediathek
Der Marktanteil von Youtube und Netflix konnte in den vergangenen Jahren ungebremst wachsen. Geht es nach dem ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm, könnte sich das in Zukunft ändern. „Europa sollte aus Gründen der Souveränität in der digitalen Welt eine eigene Alternative entwickeln“, sagt er. Wilhelm schlägt daher einen europäischen Streamingdienst vor. Senderübergreifende Mediatheken entstehen gerade in vielen Ländern. Es sind jedoch allesamt nationale Plattformen. Die EU solle eine Mediathek aufbauen, in der Inhalte aus allen EU-Staaten verfügbar sind.
Wie EU-weites Fernsehen abseits des Eurovision Song Contests entstehen kann, zeigt Jan Böhmermann. Vor zwei Jahren fand er zusammen mit europäischen Kolleg*innen satirische Antworten auf Trumps Motto „America first“. Diese Woche veröffentlichte er das Lied „Do they know it’s Europe“. Late-Night-Moderator*innnen aus Großbritannien, Frankreich oder Portugal besingen darin gemeinsam ihren Kontinent. Die Videos schauen sich die Europäer*innen auf Youtube an. In der Europa-Mediathek wäre dafür bestimmt Platz. (np)
Eine gemeinsame Armee
Die Idee einer europäischen Armee wird seit Jahrzehnten diskutiert. Der Vorschlag wird aber immer dann konkreter, wenn der Druck außerhalb und innerhalb der EU zunimmt: durch Kriege in der Ukraine und Syrien, die Flüchtlingsbewegung oder das Bröckeln der NATO, die im April 70 wurde.
Das Ziel der Armee-Befürworter ist klar: Die sicherheitspolitischen Ziele der EU sollen über denen der einzelnen Mitgliedstaaten stehen. „Polis180“, ein parteiübergreifender Thinktank der „jungen Generation“, hat eine europäische Verteidigungskooperation mit drei Einrichtungen ersonnen: Das Defence Framework verwaltet die gemeinsame Rüstungsinfrastruktur und -güter; die Crisis Reaction Force ist eine bei der EU angestellte Kriseneinsatzgruppe; und schließlich das Nuclear Shield. Es soll das französische Nukleararsenal als Abschreckungsmaßnahme aufrüsten – und dabei die Kernwaffen und Kosten über Europa verteilen.
Diese Ideen setzen ein europäisches Miteinander voraus, das es so in der Verteidigungspolitik bisher nicht gibt – und laut den Kritikern zu weit in nationalstaatliche Souveränität eingreift. Es zu entwickeln, so die Befürworter, wäre ein Schritt in Richtung europäischer Identität. Auch Angela Merkel hat diese Vision. In einer Rede plädierte sie im November 2018 vor dem Europäischen Parlament für europäische Streitkräfte. Diese Armee würde der Welt zeigen, „dass es zwischen den europäischen Ländern nie wieder Krieg gibt“. (ph)
Europa der Regionen
Ginge es nach der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, dann bestände die EU nicht aus 28 Mitgliedern, sondern aus 50. Mindestens. Klingt für viele nach einer Schnapsidee, wird aber von einer ganzen Reihe schlauer Köpfe ernsthaft diskutiert, seitdem Guérot vor drei Jahren das Buch „Warum Europa eine Republik werden muss“ veröffentlicht hat. Die darin vertretene These geht so: Der Nationalstaat ist nicht praktikabel, die Region dagegen schon. „Regionen sind die natürlichen politischen Organisationsrahmen“, sagt Guérot. Sie wären nämlich historisch gewachsen, etwa um Wirtschaftszentren wie Barcelona oder Venedig, und ökonomisch alle ungefähr gleich stark. In Deutschland, so Guérot, könnte zum Beispiel um die Zentren Dresden und Leipzig die „Region Sachsen“ entstehen.
In einer EU-50-plus gäbe es keine „Großen“ mehr, die alles bestimmen, und die Bürger*innen hätten nicht mehr das Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Damit das Ganze nicht im Chaos endet, schlägt Guérot eine Neuordnung vor: Oben steht ein direkt gewählter EU-Präsident mit einem Kabinett. Und das EU-Parlament bekommt eine zweite Kammer, einen „Europäischen Senat“, in die jede Region zwei Senatoren schickt. (sg)
Interrail für alle
Stell dir vor: Zu deinem 18. Geburtstag kommt ein Briefkuvert. Darin steckt ein Gutschein für ein Interrail-Ticket. Zugreisen in Europa bis zu 30 Tage for free, einlösbar innerhalb von sechs Jahren. Das ist die Idee hinter FreeInterrail.
Sie entstand – natürlich – auf einer Interrail-Reise. Die Aktivisten und Autoren Martin Speer und Vincent-Immanuel Heer waren gemeinsam unterwegs: „Wir saßen in Wien und sprachen über unsere Reiseerfahrungen und die Ungleichheit, die es immer noch in Europa gibt. Nur wenige junge Menschen haben die Möglichkeit, an Austauschprogrammen wie Erasmus oder dem Europäischen Freiwilligen Dienst teilzunehmen. Wir stellten fest, dass es ein Programm braucht, das alle jungen Menschen einer Generation erreichen kann“, sagt Martin Speer.
Die Idee fand auch das EU-Parlament in Brüssel gut. Im vergangenen Jahr startete ein Pilotprojekt: Fast 30.000 18-jährige EU-Bürgerinnen und Bürger erhielten nach einer Verlosung einen kostenlosen Interrail-Pass. Auch dieses Jahr wurden wieder 20.000 Tickets vergeben. Heer und Speer fordern aber weiterhin: Jede*r 18-Jährige soll ein Ticket bekommen. (tm)
Eine gemeinsame Steuerpolitik
Jedes Land hat seine eigenen Unternehmenssteuern; Irland hat offenbar mit die attraktivsten, denn dort haben Firmen wie Google, Apple oder Facebook ihren europäischen Sitz. Manches Silicon-Valley-Unternehmen müsste viel mehr Steuern in der EU zahlen, wenn die Staaten sich absprechen würden: „Solange sich europäische Staaten gegenseitig das Geld wegnehmen, wird Europa nicht erfolgreich sein im Wettbewerb mit den USA oder mit China“, sagt Gerhard Schick, ehemaliges Mitglied des Bundestages für die Grünen und Vorsitzender der Bürgerbewegung „Finanzwende“.
Für ihn ist europäische Kooperation in Sachen Steuern ein wichtiges Mittel für eine zukunftsfähige Finanzindustrie. Er denkt dabei nicht nur an Unternehmenssteuern, sondern auch an die Verfolgung von Steuerkriminalität über nationale Grenzen hinweg. Das habe auch der Cum-Ex-Skandal deutlich gemacht. Erst kürzlich deckte das Recherchenetzwerk Correctiv einen weiteren Steuerbetrug auf. Durch sogenannte Steuerkarusselle, bei denen sich Betrüger die Umsatzsteuer mehrmals in unterschiedlichen EU-Staaten erstatten lassen, entgehen der EU 50 Milliarden Euro – jährlich. (pe)
Collagen: Renke Brandt