Ja, es gibt zu viele Brüsseler Dunkelkammern
findet Nico Schmidt
Fast scheint es egal, wer in Europa an die Macht kommt. So sehr ähneln sich viele Parteien in diesen Tagen in ihrem Für-Europa-Sein. Fast alle Spitzenkandidaten haben sich in einem blauen Europa-Pulli fotografieren lassen, und ihre Parteien haben in den Städten längst auch den letzten Laternenpfahl plakatiert mit Variationen des „Europa ist die Antwort“-Pathos. Auch Firmen wie die Deutsche Bahn oder Fritz-Kola werben für den Staatenbund. Der Brausehersteller lässt über einen Instagram-Werbeclip verbreiten, dass die EU Frieden, Freiheit und Demokratie sei, und fordert: „Tu etwas dafür, dass das so bleibt“. Und das ist alles richtig und eben auch irgendwie nicht.
Anders als die Vereinten Nationen lassen die Unionsstaaten keine Diktaturen in ihren Klub. Die Grundierung der EU ist also demokratisch – klar. Doch wer bei all der Europa- und Demokratiebegeisterung nicht ganz so genau hinschaut, was in Brüssel eigentlich los ist, kann leicht übersehen, dass in Europas Mitte einige Politiker längst damit begonnen haben, die europäische Demokratie auseinanderzubauen. An ihrer Stelle errichten sie eine undemokratische Dunkelkammer, in die nur wenige Zutritt haben.
Das Europaparlament hat selten wirklich etwas zu sagen
Auf einen Europaabgeordneten kommen etwa 33 Lobbyisten, schätzt die Organisation LobbyControl. Die haben nur ein Ziel: ihre Interessen in Gesetzen und Richtlinien festschreiben zu lassen. Das ist ein Problem. Denn in Brüssel sind nicht alle Gruppen gleich vertreten, zwei von drei Lobbyisten arbeiten für Wirtschaftskonzerne. Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände sind in der Unterzahl. Denn wer für seine Interessen werben will, muss sich das leisten können. Da wären zum Beispiel die Kosten für das Porto der Briefe und Kondome, mit denen eine Lobbyorganisation für Uploadfilter warb. Ihre Botschaft an die Abgeordneten: „Wir lieben Tech-Giganten und wir lieben Schutz.“ Effektiver und teurer waren da mutmaßlich die fast 800 Treffen von Lobbyisten mit Mitarbeitern der EU-Kommission, in denen sie über Urheberrecht sprachen – und wohl auch Uploadfilter. Ende März reformierte dann das Europaparlament das Urheberrecht und ermöglichte jene Uploadfilter.
Das Europaparlament hat selten wirklich etwas zu sagen. Und das gefährdet die europäische Demokratie mehr als jede Lobbyistendelegation. Das EU-Parlament muss zwar Gesetze verabschieden, darf selber aber keine vorschlagen. Wenn EU-Gesetze entworfen werden, geschieht das immer häufiger in Räumen, die kein Bürger und kein Journalist betreten kann.
Die EU braucht neue Regeln
Dort, in Europas Dunkelkammer, treffen sich Rat, Kommission und EU-Parlamentarier. Sie werden in Brüssel „informeller Trilog“ genannt, sind aber nicht gesetzlich geregelt. Dabei werden inzwischen vier von fünf Gesetzen auf diese Art erarbeitet. Das Ergebnis nicken anschließend die EU-Parlamentarier nur noch ab. Wer zuvor für welche Interessen mit welchen Argumenten geworben hat? Lange wusste das niemand. Erst im März 2018 forderte das Europäische Gericht, mehr Transparenz zu schaffen und Dokumente offenzulegen. Doch häufig sagen die Trilog-Beteiligten, es gebe gar keine Dokumente oder Protokolle. Bei diesen Treffen im kleinen Kreis gewinnen oft die Nationalregierungen und drücken ihre eigenen Interessen durch. Die Bundesregierung versuchte so, bestimmte Abgastests zu verhindern oder Mechanismen gegen Steuervermeidung. Das ist nicht gerade europäisch und nicht demokratisch.
Die Europa-Begeisterung ist ja auch gut, denn es ist wichtig, den Nationalisten etwas entgegenzustellen. Doch wer sich nur vor die EU stellt, sieht nicht, was da mitunter schiefläuft. Die EU bietet nicht nur Anlass zu feiern, und Europa ist nicht immer die Antwort. Es ist ein Konstrukt, das auch von innen bedroht wird und neue Regeln braucht. Wie das geht, wurde Anfang des Jahres deutlich, als es EU-Parlamentariern trotz des Widerstandes einiger Abgeordneter überraschend gelang, neue Transparenzregeln zu verabschieden. Künftig müssen Ausschussvorsitzende und sogenannte Berichterstattende in Gesetzgebungsverfahren offenlegen, wann sie welche Lobbyisten treffen. Ein Anfang.
Nico Schmidt ist Reporter für das europaweite Recherchenetzwerk Investigate Europe. Als er neulich zum ersten Mal im Brüsseler EU-Viertel recherchierte, war er verblüfft, wie getrennt diese Welt vom Rest der Stadt ist. Dort sah er in den Straßen und Bars vor allem Lobbyisten.
Collagen: Renke Brandt
Nein, die EU ist demokratischer als ihr Ruf
entgegnet Jule Könneke
Flagge für Europa zu zeigen ist heute wieder angesagt. Besonders in einer Zeit, in der einige europäische Parteien die EU am liebsten abschaffen wollen. Sie sei „undemokratisch“, lautet einer der beliebten Vorwürfe. Das stimmt nicht!
Fangen wir bei der Grundarchitektur der EU an. Okay, klingt langweilig, aber erlaubt mir diesen Ausflug. Die EU-Bürger*innen wählen ihre Abgeordneten in fairen, geheimen und freien Wahlen. Die EU-Abgeordneten vertreten, wie in nationalen Parlamenten, also ihre Wähler*innen unmittelbar. Was soll daran undemokratisch sein? Der Europäische Rat setzt sich aus den – demokratisch gewählten – Staats- und Regierungschefs der einzelnen Mitgliedstaaten zusammen. Die Europäische Kommission schließlich wird zwar nicht gewählt, jedoch ist der Europäische Rat, der die Mitglieder der Kommission vorschlägt, auf die Zustimmung des EU-Parlaments angewiesen. Die EU-Kommission ist damit dem Parlament gegenüber nicht nur rechenschaftspflichtig. Das Europäische Parlament hat auch immensen Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission.
Gesetze können im Europaparlament nicht einfach „durchgewunken“ werden
Apropos Parlament: Dort wird fast so lauthals debattiert wie im britischen Unterhaus, wenn es über Brexit-Fragen streitet. Anders als im Deutschen Bundestag gibt es im EU-Parlament keine klare Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition. Da sich die EU-Kommission folglich nicht auf eine feste Parlamentsmehrheit stützen kann, müssen für jede ihrer Gesetzesinitiativen aufs Neue Mehrheiten und Kompromisse zwischen den Fraktionen gefunden werden. Das erfordert überzeugende Argumente, erhöht die Transparenz und schafft eine vielfältige Debattenkultur! Ein einfaches „Durchwinken“ von Gesetzesinitiativen gibt es in Brüssel nicht. Eine Mehrheit muss sich immer wieder neu finden und überzeugen lassen.
Die EU ist in den vergangenen Jahren immer demokratischer geworden. Seit dem Lissabon-Vertrag von 2009 müssen die Parlamentarier*innen allen EU-Gesetzen zustimmen. Außerdem stellen die europäischen Parteien mittlerweile eine Spitzenkandidatin oder einen Spitzenkandidaten für die Kommissionspräsidentschaft auf. Das garantiert den EU-Bürger*innen ein weiteres Mitspracherecht. Denn die Ergebnisse der EU-Parlamentswahlen werden bei der Ernennung des Kandidaten oder der Kandidatin für den Vorsitz der EU-Kommission berücksichtigt.
Man darf die EU nicht mit nationalstaatlichen Demokratien verwechseln
Viele Kritiker*innen verwechseln die Demokratie, die sie aus ihrem Nationalstaat kennen, mit der auf europäischer Ebene. Sie sagen dann zum Beispiel: „Der Rat der EU ist nicht ausreichend legitimiert, weil er nicht direkt von uns Bürger*innen gewählt wird.“ Das ist irreführend, denn die Europäische Gemeinschaft ist kein Staat und zielt auch nicht darauf ab, einer zu werden. Die EU ist ein weltweit einzigartiges politisches System. Es verbindet intergouvernementale (zwischenstaatliche) mit supranationalen (überstaatlichen) Elementen. An Entscheidungsprozessen sind mit der regionalen, der nationalen und der supranationalen mindestens drei Ebenen beteiligt. Jede dieser Ebenen hat ihre eigenen Verfahren und Akteure. Nationalstaatliche Demokratiemaßstäbe werden dieser Komplexität des EU-Mehrebenensystems nicht gerecht und sind daher gänzlich ungeeignet, die demokratische Qualität der EU zu messen.
In der EU geht es sogar direktdemokratisch zu: mit Europäischen Bürgerinitiativen (EBI) können die Bürger*innen die EU-Kommission zu neuen Gesetzgebungsinitiativen auffordern. Auf Bundesebene gibt es dafür in Deutschland kein Äquivalent. Die EBI stärken die partizipative Demokratie und lassen eine europäische Öffentlichkeit entstehen. Länderübergreifend können EU-Bürger*innen sich für eine gemeinsame Sache einsetzen.
Natürlich ist die europäische Demokratie noch nicht perfekt. Sie sollte, beispielsweise durch einen weiteren Kompetenzausbau des Europäischen Parlaments, laufend weiterentwickelt werden. Aber: Als Wertegemeinschaft mit einmaligen Formen grenzüberschreitender demokratischer Zusammenarbeit sucht die EU in der Welt ihresgleichen. Demokratisch ist die EU auf jeden Fall.
Jule Könneke ist Politikwissenschaftlerin und engagiert sich ehrenamtlich als Vorstandsmitglied bei Polis180, einem Grassroots-Thinktank für Europa- und Außenpolitik. Sie ist genervt vom ständigen EU-Bashing und meint: Die perfekte Demokratie gibt es (noch) nicht. Es sei doch kein Problem, sie immer weiter zu verbessern!