Als Delmi aufwachte, war ihr schwindelig, sie hatte das Gefühl, dringend auf die Toilette zu müssen. Warum blutete sie so sehr? Sie erschrak, dann wurde sie ohnmächtig. Den Rest erfuhr sie später im Krankenhaus: Sie hatte ein Kind verloren. „Ich war schwanger?“ Delmi verstand nicht, was los war. Dass in den letzten Monaten etwas mit ihrem Körper nicht stimmte, hatte sie natürlich gemerkt. Deshalb war sie ja auch zum Arzt gegangen. Der hatte ihr Tabletten gegeben, sagt Delmi – gegen das Unwohlsein, gegen die geschwollenen Hände und Füße, das Schwindelgefühl. Dass sie die Periode nicht bekommen hatte, führte sie darauf zurück, dass sie vor kurzem von der Pille auf Verhütungsspritzen umgestiegen war: „Ich dachte, mein Körper sei einfach nur durcheinander.“ Delmi war da schon im fünften Monat und litt an der Schwangerschaftserkrankung Präeklampsie, einer Erkrankung, die mit erhöhtem Blutdruck und einer gestörten Nierenfunktion einhergeht. Die Symptome waren typisch dafür, aber die Ärzte erkannten sie nicht.
Was passierte, als sie nach der Fehlgeburt ins Krankenhaus eingeliefert wurde, ist kein Einzelfall in El Salvador: Die Ärzte zeigten Delmi an – wegen Abtreibung. Die Polizei führte sie ab, sobald sie wieder laufen konnte. Abtreibung ist in dem mittelamerikanischen Land verboten. Der Einfluss der katholischen Kirche und konservativer Gruppen ist so groß, dass seit 1998 sogar im Fall einer Schwangerschaft als Folge einer Vergewaltigung, wenn der Embryo schwerste Fehlbildungen aufweist oder das Leben der Mutter auf dem Spiel steht, ein absolutes Verbot besteht. Ein Arzt, der eine mögliche Abtreibung nicht anzeigt, riskiert eine Gefängnisstrafe.
Wer Geld hat, treibt trotzdem ab, und sei es im Ausland. Wer kein Geld hat, sucht nach einer illegalen Möglichkeit, oft prekär und lebensgefährlich – etwa 35.000 Frauen sehen jedes Jahr in El Salvador keinen anderen Ausweg, schätzt die NGO „Agrupación Ciudadana por la Despenalización del Aborto Terapéutico, Ético y Eugenésico“, die sich für eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen einsetzt. „Die Reichen treiben ab, die Armen verbluten“, sagt die Psychologin Sara García, die bei der NGO schon viele Frauen betreut hat. „Wer arm ist und abtreibt, riskiert sein Leben und dazu noch eine Gefängnisstrafe von zwei bis acht Jahren.“
Doch für Delmi Ordoñez kam es noch schlimmer. Für die Anklage war die Hausfrau und Mutter eines Neunjährigen eine Kindsmörderin: Sie habe sich nicht angemessen verhalten und so die Frühgeburt und somit den Tod des Kindes provoziert. „Stell dich darauf ein, dass du 35 Jahre bei uns bleibst“, begrüßte sie eine Vollzugsbeamtin im Gefängnis, als hätte sie tatsächlich ihr Neugeborenes ermordet. „Es war schrecklich“, sagt Delmi. „Wir waren 300 Frauen in einem viel zu kleinen Raum, mussten auf dem Boden schlafen, überall lagen Menschen, sogar auf der Toilette.“
40 Jahre Haft wegen angeblichen Kindsmordes
Delmi hat großes Glück, überhaupt in Freiheit von ihrem Schicksal berichten zu können: Ihre Schwester, die als Hausmädchen arbeitet, erzählte ihren Arbeitgebern von Delmis Schicksal. Diese fanden im Internet die NGO, bei der auch Sara García arbeitet. Die Anwälte der NGO halfen Delmi, sie konnten überzeugend darlegen, dass das Kind eine Totgeburt war. Nach elf langen Monaten kam Delmi wieder frei. Zurzeit sitzen noch weitere 16 Frauen, die ebenfalls eine Fehl- oder Totgeburt erlitten haben, in Gefängnissen. Verurteilt wegen Mordes zu 30 oder sogar mehr Jahren Haft. Die Richter waren taub für alle Argumente ihrer Verteidigung. Etwa im Fall von María Teresa, einer Näherin, die während der Arbeit eine Fehlgeburt erlitt. Sie wurde 2012 wegen Kindsmordes zu 40 Jahren verurteilt. Das Gefängnis wird sie voraussichtlich im Jahr 2052 verlassen, mit beinahe 70 Jahren.
Eine Kommission von Amnesty International hat einen ausführlichen Bericht zu diesem Thema erstellt. Mindestens 129 Frauen wurden zwischen 2000 und 2011 in El Salvador wegen des Verdachts auf Abtreibung oder unter dem Vorwurf des Kindsmordes vor Gericht gestellt, fünf weitere warten derzeit auf ein Urteil. „Die meisten von ihnen wurden von Ärzten in öffentlichen Krankenhäusern angezeigt“, sagt Erika Guevara Rosas, eine Menschenrechtsanwältin von Amnesty International. Sie erzählt von Fällen, bei denen Frauen in El Salvador nach einer Fehlgeburt im Krankenhaus mit Handschellen an das Bett gekettet aufwachten: „Wenn die Anklage auf Kindsmord lautet, bekommen diese Frauen härtere Strafen als ein Vergewaltiger.“
„Alle die Frauen, die vor Gericht gestellt wurden, sind arm und hatten keine oder keine ausreichende ärztliche Versorgung während der Schwangerschaft“, sagt Guevara Rosas. Ein Arzt berichtete den Rechercheuren von Amnesty von dem Fall eines neunjährigen Mädchens, das infolge einer Vergewaltigung schwanger wurde und das Kind austragen musste: „Sie fragte uns nach Malstiften, Buntstiften. Und es brach uns allen das Herz, weil sie anfing, uns zu malen, sie malte Bilder und heftete sie an die Wand. Uns war klar, dass sie immer noch ein kleines Mädchen war. Und letztendlich verstand sie nicht, dass sie ein Kind erwartete.“
El Salvador ist ein extrem konservatives Land
Mehrere hochrangige Politiker empfingen die Menschenrechtler von Amnesty International während ihres Besuchs in El Salvador. Aber die Antwort war immer die gleiche, berichtet Guevara Rosas: „Die Verfassung erlaube ihnen nicht, die Gesetze zu verändern, da in El Salvador schon eine befruchtete Eizelle geschützt werden muss. Wir hatten den Eindruck, dass sie zwar einsahen, wo das Problem liegt, aber dass der politische Wille fehlt, etwas zu ändern.“ Ein Anwalt der Agrupación Ciudadana sagt: „El Salvador ist ein extrem konservatives Land. Information wird durch den Blickwinkel des Glaubens gefärbt. Selbst wenn eine Frau von 18 Männern vergewaltigt wird, muss sie das Kind austragen, weil Gott es so bestimmt hat, sagen sie.“
Weltweit gibt es nur wenige Länder mit einer ähnlich restriktiven Gesetzgebung, wie etwa Nicaragua, Malta und Chile. In Chile könnte das absolute Verbot möglicherweise bald fallen, so dass ein Schwangerschaftsabbruch zumindest dann möglich wäre, wenn Gefahr für das Leben der Mutter besteht, eine Frau vergewaltigt wurde oder der Fötus keinerlei Überlebenschancen hat.
Ein solcher Fall sorgte in El Salvador vor zwei Jahren für Aufmerksamkeit: Beatriz, eine 22-Jährige, die an einer Autoimmunkrankheit leidet, war schwanger. Ihr Baby litt an Anenzephalie, einer schweren Fehlbildung des Hirns, und hatte deshalb keine Chance, länger als ein paar Tage zu überleben. Die Mitglieder der Agrupación Ciudadana und auch andere feministische Gruppen protestierten – aber es half nichts: Das Verfassungsgericht in El Salvador entschied, dass das Leben der Mutter nicht über das des Embryos zu stellen sei. Beatriz musste unter Gefahr für ihr eigenes Leben das Kind über die 20ste Schwangerschaftswoche hinaus austragen, es kam per frühem Kaiserschnitt zur Welt und starb nach fünf Stunden. Beatriz überlebte.
„Das alles hat mein Leben zerstört“, sagt Delmi. Als sie nach elf Monaten aus dem Gefängnis kam, begann auch ihr Mann, sie als Kindsmörderin zu beschuldigen. Die Nachbarn sahen sie von der Seite an, tuschelten. Und irgendwann war sie allein mit inzwischen zwei Kindern. „Ich bin immer eine Hausfrau gewesen, plötzlich musste ich mich alleine durchschlagen“, sagt Delmi. Doch niemand wollte ihr Arbeit geben. Sie zog um, machte einen Kiosk auf. „Weil ich so gleichzeitig arbeiten und für meine Kinder da sein kann.“ Vor zwei Wochen wurde sie überfallen. „Sie haben alles mitgenommen, alles. Ich muss wieder ganz von vorne anfangen“, sagt sie. „Wir leben in einer Macho-Gesellschaft. Eine alleinstehende Frau lebt in El Salvador gefährlich.“
Karen Naundorf ist Absolventin der Henri-Nannen-Journalistenschule und gehört zum Journalistennetzwerk „Weltreporter“. Sie lebt in Argentinien und berichtet für deutschsprachige Medien aus ganz Südamerika.