Was aus ihrem Zuhause geworden ist, das weiß sie nicht. Taissas Augen werden feucht, glänzen in der Sonne, die heiß vom Himmel über Charkiw herabscheint. Die kleine, agile Frau wischt sich durchs Gesicht. Über das, was hinter ihr liegt, will sie nicht reden. „Wir sind erst mal froh, dass es uns hier gut geht. Wir versuchen, nach vorne zu schauen.“
Auf der Flucht, und doch fast vor der eigenen Haustüre: 400 Binnenflüchtlinge wohnen in der Containerstadt in Charkiw in der Ostukraine, darunter 160 Kinder. Die meisten kommen aus dem benachbarten Donbass.
So kamen Mutter und Tochter ins nordwestlich gelegene Charkiw. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine liegt zwar auch nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Charkiw wurde aber – anders als Luhansk oder Donezk – nicht von Separatisten besetzt und als unabhängige „Volksrepublik“ ausgerufen.Taissa, 57, stammt aus Luhansk, einer Stadt im Osten der Ukraine, die heute von Separatisten und Milizen besetzt ist. Dort hatte sie ein Haus, ein Auto, betrieb ein Reisebüro. „Ich war häufig in Stuttgart, München und Berlin“, erzählt sie, und ihre Augen beginnen zu strahlen. Im August 2014 beschloss sie, aus der Ostukraine zu fliehen, zusammen mit ihrer schwangeren Tochter Anja, 32. „Dort gab es einfach keine Zukunft für uns. Und mir war klar, dass meine Tochter dort kein Kind zur Welt bringen konnte.“
Einen Sommer später stehen die beiden Frauen in einem kleinen, hellen, rund 14 Quadratmeter großen Raum. In ihrem neuen Zuhause haben zwei Betten und ein Regal Platz. Anja hält ihre Tochter Julija im Arm, die Kleine ist inzwischen sieben Monate alt. Das Baby lächelt und reibt sein Gesicht an dem der Mutter. Und wo sind die Männer? Taissa winkt ab. „Mein Mann ist schon länger weg. Auch Julijas Vater hat sich aus dem Staub gemacht.“
Die Flüchtlingssiedlung am Rande von Charkiw, wo die kleine Familie seit Februar 2015 lebt, wurde auch mit Finanzmitteln der deutschen Bundesregierung und Baumaterialien aus Deutschland errichtet. Sie besteht aus flachen Containern, in denen rund 400 Menschen Obdach gefunden haben, darunter 160 Kinder. Einige von ihnen spielen auf einem kleinen staubigen Feld Fußball. Vor den provisorischen Wohnungen haben die Menschen kleine Gärten mit bunten Blumen angelegt.
Sie sind froh, einen Ort gefunden zu haben, der sicher ist
Die meisten hier stammen wie Taissa aus Luhansk, einige auch aus anderen Teilen der umkämpften Donbass-Region im Osten der Ukraine. Viele haben die Schrecken des Krieges in den besetzten Gebieten erlebt. Wie Dima, 36, ein groß gewachsener junger Mann, der so etwas wie der Chef der Siedlung ist. Er hat seinen Bruder, der für die ukrainische Armee kämpfte, im Krieg verloren. Mit seiner Frau und seinen sechs Kindern lebt er nun hier, nachdem „die Situation unerträglich und zu gefährlich“ geworden war. „Wir waren ja für die Ukraine“, sagt er und schaut dabei sehr ernst aus. Bei der Frage, ob er sich bereits damit abgefunden habe, in Charkiw zu bleiben, oder ob er noch daran glaube, in seine Heimat zurückkehren zu können, versagen Dima die Worte.
So geht es vielen hier. Sie sind einerseits froh, einen Ort gefunden zu haben, der sicher ist und an dem sie versorgt werden. Andererseits wissen sie überhaupt nicht, wie es weitergehen soll mit ihrem Leben. Einige wenige, so hört man, sind wieder nach Luhansk zurückgekehrt. Andere reisten weiter zu Verwandten in andere Teile der Ukraine. Seit der Annexion der Krim durch Russland im März 2014 und dem Ausbruch der Kämpfe zwischen Separatisten und ukrainischen Truppen in der Ostukraine im April 2014 haben sich 1,3 Millionen Menschen als Binnenflüchtlinge in der Ukraine registrieren lassen, wie das UNHCR –auf Basis von Angaben des Ministeriums für Soziales in der Ukraine – Ende Juni verlautbaren ließ.
Die eigentliche Zahl der Flüchtlinge innerhalb der Ukraine wird jedoch höher geschätzt. Viele lassen sich nicht sofort nach der Ankunft registrieren, sondern erst, wenn sie eine Wohnung und Arbeit gefunden haben. 94 Prozent von denen, die im Ausland Asyl beantragt haben, taten dies in Russland – laut UN im Jahr 2014 knapp 272.000 Personen. Zum Vergleich: 4.600 Ukrainer haben seit Ausbruch der Kämpfe in Deutschland einen Asylantrag gestellt.
Flüchtlingsinitiativen springen ein, weil der Staat nur wenig leisten kann
In Charkiw betreibt die Flüchtlingsinitiative „Station Charkiw“ eine Auffangstelle am Bahnhof der Stadt. Dort können sich Flüchtlinge nach der Ankunft melden, sie erhalten – falls notwendig – Kleidung, Essen, medizinische Betreuung, juristische und psychologische Hilfe. Charkiw, eine Stadt mit regulär 1,5 Millionen Einwohnern, hat mit dem Zustrom zu kämpfen. Wohnungen sind rar, Arbeit gibt es kaum, die Flüchtlingskinder müssen zur Schule gehen, Rentner und Kranke versorgt werden. Mindestens 50.000 Flüchtlinge hat die Stadt mittlerweile aufgenommen. In der Region um die Stadt herum sollen es Schätzungen zufolge bis zu 500.000 sein.
„Das größte Problem aber ist die Angst der Leute vor unseren Beamten und vor der Bürokratie“, berichtet Olena Hontscharowa. „Diese Angst stammt noch aus der Sowjetunion. Beamte haben sich nie als Dienstleister für Bürger gesehen. Sie gelten bis heute als korrupt. Und da versuchen wir als Mittler aufzutreten.“ Die 30-Jährige hat die Initiative „Station Charkiw“ im August 2014 gegründet, „als immer mehr Menschen aus den umkämpften Gebieten kamen und uns klar war, dass die überforderten Behörden nur sehr wenig helfen würden“. Über 400 Flüchtlinge kamen damals jeden Tag in Charkiw an.
Auf den Staat, auf Beamte und Behörden sind nur wenige gut zu sprechen, die sich für die Binnenflüchtlinge einsetzen. „Da kommt leider zu wenig Hilfe“, so ist immer wieder zu hören. Die Gründe: eine instabile Ökonomie und mangelnde Finanzen in einem Staat, der kurz vor dem Bankrott zu stehen scheint. Hinzu kommen Überforderung, Desorganisation, Korruption. Groß angelegte Reformen, die das Land modernisieren sollen, sind teilweise begonnen, lassen aber oft noch Durchschlagskraft vermissen. So sagte Andrij Waskowycz, Präsident der Caritas Ukraine, im Interview mit dem Deutschlandfunk, dass der Staat nur wenig Hilfe leisten könne. Die Flüchtlinge und die Helfer kämen inzwischen an die Grenzen ihrer seelischen, ökonomischen und körperlichen Belastbarkeit. Vom Staat bekommen arbeitsfähige Flüchtlinge derzeit 440 Griwna im Monat als finanzielle Hilfe, das sind umgerechnet rund 18 Euro. Rentner erhalten das Doppelte.
Die Helfer stellen sich darauf ein, ihre Arbeit noch länger machen zu müssen
„Wenn es darum geht, Gebäude als Wohnungen zur Verfügung zu stellen, blockieren die Behörden“, berichtet eine Anwältin, die ihren Namen nicht nennen will. „Die Flüchtlinge werden als Fremdkörper wahrgenommen, die man eigentlich gar nicht haben will.“ Wenn ihr Arbeitstag als Anwältin beendet ist, kümmert sie sich bis in die Nacht um Anträge von Flüchtlingen und die Korrespondenz mit Behörden. Initiativen wie „Station Charkiw“ oder auch „Wostok SOS“ in der ukrainischen Hauptstadt Kiew sind auf die zumeist ehrenamtliche Hilfe von Freiwilligen und die Unterstützung von internationalen Organisationen angewiesen. Dazu gehören unter anderem das Rote Kreuz, die Caritas oder das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR.
Die Flüchtlingsinitiativen stellen sich darauf ein, dass sie ihre Arbeit noch länger machen müssen. Bis Anfang März 2015 sind nach Angaben der UN über 6.000 Menschen infolge der Kämpfe um die Ostukraine ums Leben gekommen. Und auch nach dem im Februar 2015 geschlossenen Waffenstillstandsabkommen Minsk 2 sterben immer noch Menschen, fast jeden Tag.
Im Hauptquartier der „Station Charkiw“, wo Kinderspielzeug und Kleidung in Regalen lagern, die von Ukrainern und Leuten in vielen anderen Ländern gespendet worden sind, herrscht reges Treiben. Eine UN-Delegation ist zu Besuch. In der Spielecke toben zwei kleine Jungs. Am Tisch im Eingangsbereich sitzt ein Ehepaar, das gerade in Charkiw angekommen ist. Hinter ihnen an der Wand hängt eine niederländische Fahne. „Wir sind mit euch“ ist darauf auf Russisch zu lesen. „Wir sind alle sehr, sehr müde“, sagt Ira, eine Kindergärtnerin, die von Anfang an dabei ist. „Aber wir können ja nicht einfach aufhören, solange wir gebraucht werden.“ Wie es weitergeht? „Wir hoffen alle, dass die Kämpfe aufhören und der Flüchtlingsstrom abebbt“, sagt Gründerin Olena Hontscharowa. „Aber wirklich daran glauben tun wir nicht.“ In der Flüchtlingssiedlung in Charkiw steht Taissa im Türrahmen zu ihrem Wohncontainer. Sie lächelt zum Abschied. „Alles wird gut“, sagt sie, als wolle sie sich vergewissern, dass tatsächlich alles gut werden kann, wenn man nur fest daran glaubt.