Als die US-Fotojournalistin Shannon Jensen im Mai 2012 in das ostafrikanische Land Südsudan kommt, landet sie mitten in einer Flüchtlingskrise. Zivilisten fliehen vor Kämpfen an der Grenze zwischen dem 2011 gegründeten neuen Staat Südsudan und dem nördlich gelegenen Sudan. Bei den Gefechten geht es auch um die Kontrolle über die ölreichen Gebiete an der Grenze zwischen dem Norden und dem abgespaltenen Süden.
In den Camps der Flüchtlinge macht Jensen ihren Job: Es entstehen Fotos von der katastrophalen Lage der Vertriebenen, die um ihr Leben gerannt sind, die teils wochenlang unterwegs waren und nur das Allernötigste mitnehmen konnten. Doch die Nachrichtenagenturen zu Hause zeigen zunächst wenig Interesse an Shannon Jensens Bildern. Die Fotografin bekommt Sätze wie diesen zu hören: „Sagen Sie uns Bescheid, wenn es dramatischer wird.“ Jensen kann es kaum fassen. Und schaut sich ihre Fotos noch mal an. Nicht schlimm genug?
Dann fallen Jensen die Schuhe der Flüchtlinge auf. Abgelaufene Sandalen, zerfledderte Flipflops, löchrige Turnschuhe, brüchige Plastikballerinas. Oft notdürftig repariert, so dass sie gerade noch zusammenhalten, zeigen die Schuhe die Spuren der Flucht durch steiniges, staubiges Gelände. Jensen beschließt, die Schuhe zu fotografieren. Schuhe, die eine Geschichte erzählen. Sie bittet die Flüchtlinge um Erlaubnis, und die meisten willigen ein. „Sie haben sofort verstanden, um was es mir geht: die Schuhe als Zeugnis ihres langen Weges zu zeigen, ihres Durchhaltens und Leidens.“
Mit ihren Fotos der Schuhe, sie nennt die Serie „A Long Walk“, hat Jensen Erfolg. Die Bilder machen sie als Fotografin weltweit bekannt. Das Magazin „Newsweek“ druckt die Schuh-Fotos, später werden sie auch ausgestellt und mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem „Inge Morath Award“, der nach der bekannten Magnum-Fotografin benannt ist.
„Ich hoffe, dass diese Fotos beim Betrachter mehr auslösen als die üblichen Mitleidsreflexe“, sagt Shannon Jensen zu ihren Fotos. „Ich zeige ja kein Porträt der Flüchtlinge, sondern nur ihre Schuhe, dazu nenne ich Namen, Alter, Geschlecht und die Zahl der Tage, die sie gelaufen sind. So bleibt dem Betrachter vielleicht mehr Raum für eigene Vorstellungen – wer ist diese Person, und was hat sie durchgemacht? Und vielleicht denken manche auch darüber nach, wie es wäre, wenn sie selbst in diesen Schuhen gesteckt hätten.“
Der Konflikt
Krieg, Flucht und Hunger. Darunter leiden die Menschen im Sudan seit Jahrzehnten. Nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft 1956 gab es – mit ein paar Jahren Unterbrechung – eigentlich immer Krieg im Sudan. Nach zwei Bürgerkriegen, die bis zu zwei Millionen Tote forderten, spaltete sich der christlich geprägte Süden vom muslimisch-arabischen Norden ab: Im Januar 2011 stimmte die Bevölkerung Südsudans in einem Referendum mit einer Mehrheit von 99 Prozent für die Abspaltung. Am 9. Juli 2011 entstand der Staat Südsudan. Doch die Begeisterung über die Unabhängigkeit hielt nur kurz an. Schon im Frühjahr 2012 kam es zu Gefechten um die ölreichen Gebiete an der neuen, über 1.800 Kilometer langen Grenze zwischen Sudan und Südsudan.
Im Dezember 2013 bricht dann in dem jungen Staat Südsudan ein militärischer Machtkampf aus. Bei der Auseinandersetzung zwischen Regierungstruppen und Rebellen spielen sowohl die Kontrolle über ölreiche Gebiete im Norden des Landes als auch die ethnische Zugehörigkeit, also die Stammeszugehörigkeit der Menschen, eine Rolle. Die Truppen von Präsident Salva Kiir, einem Dinka, kämpfen gegen die seines ehemaligen Stellvertreters Riek Machar, einem Nuer. Was mit einem Putschversuch begann, weitete sich aus zu einem Bürgerkrieg. Die Stämme der Dinka und der Nuer starteten Racheaktionen, vor allem im Norden des Landes. Seither kämpfen die beiden Parteien um die Kontrolle über die Ölgebiete. Im Sommer 2015 sprechen UN-Beobachter von besonders schweren Übergriffen auf Frauen und Kinder.
Laut UN-Angaben wurden schon Zehntausende Menschen getötet, über viereinhalb Millionen – etwa 40 Prozent der Bevölkerung – sind akut von Hunger bedroht; 250.000 Kinder sogar vom Hungertod. Der Krieg hat bereits mehr als 2,1 Millionen Menschen vertrieben. Friedensverhandlungen zwischen den Konfliktparteien scheiterten bislang. Zum Schutz der Zivilbevölkerung ist die UN-Mission UNMISS im Südsudan tätig. Sie hat einige ihrer Stützpunkte in Anlaufstellen für Flüchtlinge umgewandelt – erstmals in der Geschichte.
Shannon Jensen wurde in Bethesda im US-Bundesstaat Maryland geboren. Sie studierte Wirtschaft und wandte sich dann dem Journalismus und der Fotografie zu. Von 2009 bis 2011 arbeitete sie als Fotojournalistin in Nairobi, Kenia. Ihr Werk wurde vielfach ausgestellt und ausgezeichnet. Derzeit lebt und arbeitet sie in London und Seoul.