Thema – Angst

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Macht euch weg

Sie: Muslimin. Er: aus einer Hindu-Familie. In Indien kann das bedeuten, dass man untertauchen muss

  • 11 Min.
Fotos: Abhishek Khedekar

An einem Mittwoch im März 2023 bekommt Ankur überraschend Besuch. Seine Schwester, sein Schwager und dessen Bruder, die im ländlichen Bundesstaat Rajasthan leben, stehen vor seiner Tür. Sie seien zum Shoppen nach Mumbai gekommen, ob er sie über das Wochenende nach Rajasthan begleiten wolle, die Eltern kämen auch. Ankur freut sich. Auf Zeit mit seiner Familie und die Chance, über das zu sprechen, was zwischen ihnen steht. Doch als er die Autotür zuzieht, wird ihm klar, dass er zu leichtgläubig war.

Plötzlich hätten sich ihr Gesichtsausdruck und ihr Tonfall verändert, erinnert sich Ankur. „Alles ging in die falsche Richtung.“ Sie fahren aus der Stadt, viele Stunden, immer weiter nach Norden. Ankur, 24, ein jungenhafter Mann mit Locken, schiefem Lächeln und Informatik-Master, wird von seiner Familie entführt.

Hinter der Geschichte

Indien ist ein multireligiöses, multiethnisches Land, in dem neben der Mehrheit der Hindus Christen, Sikhs, Buddhisten und Jains leben. Die größte Minderheit: die fast 200 Millionen Muslime. Bei der Gründung der Staaten Indien und Pakistan 1947 mussten Millionen Menschen umsiedeln, Hindus, Muslime und Sikhs gerieten in blutige Auseinandersetzungen. Die Gewalt flammt immer wieder mal auf, aber insgesamt leben die Glaubensgemeinschaften weitgehend friedlich zusammen.

Seit 2014 Narendra Modi Premierminister wurde, verfolgt die Regierung einen Hindu-nationalistischen Kurs: Sie hat Gesetze geschaffen, die besonders Muslime diskriminieren, und ein gesellschaftliches Klima, in dem Übergriffe akzeptiert und Regierungskritiker öffentlich diffamiert werden.

Wochenlang darf er nicht telefonieren oder das Haus verlassen. Sie zwingen ihn, seinen Job zu kündigen, schlagen ihn, drohen mit dem Tod. Er muss Psychopharmaka schlucken und Geisteraustreibungen über sich ergehen lassen. Und das alles wegen Shifa. Sie ist Muslimin, Ankur kommt aus einer hinduistischen Familie.

Die Reaktion ist extrem, aber keine Ausnahme. Ankurs Familie gehört zur aufstrebenden Mittelschicht, das Drama um ihn und Shifa spielt im Herzen der indischen Gesellschaft.

In den vielen Bollywood-Filmen des Landes dominiert das immer gleiche Ringen um romantische Liebe: der erste Blick, das erste Missverständnis, die Versöhnung, die Heirat. Dabei ist die Liebe in Indien eine komplexe Sache: Hier versuchen selten nur zwei Menschen herauszufinden, wie und mit wem sie ihr Leben verbringen wollen, sondern viele: die Familie, die religiöse Community, politische Gruppen, sogar der Staat.

Die große Mehrheit der indischen Ehen arrangieren die Eltern: 93 Prozent der befragten Verheirateten in städtischen Gebieten gaben bei einer großen Studie aus dem Jahr 2018 an, dass ihre Familie ihren Ehepartner ausgesucht hat. Liebesheiraten, bei denen sich die Partner eigenständig kennenlernen, sind die Ausnahme.

Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Paare zwangsverheiratet werden. Oft dürfen die „Kinder“ bei der Entscheidung mitreden. Aber die Auswahl ist traditionell Aufgabe der Eltern. Neben individuellen Vorlieben schauen sie vor allem, dass die Familien zusammenpassen. Geld und Status spielen eine Rolle, für Hindus die Kastenzugehörigkeit und sehr zentral ist der Glaube. In einer 2020 landesweit durchgeführten Umfrage gaben 99 Prozent der verheirateten Befragten an, einen Ehepartner gleichen Glaubens zu haben. Inderinnen und Inder heiraten bis heute, wie es schon ihre Großeltern getan haben – und sie wollen, dass das so bleibt: Die überwiegende Mehrheit spricht sich gegen interreligiöse Ehen aus, über alle Glaubensgruppen hinweg.

Diese Konvention trifft Paare wie Shifa und Ankur, die für ihre Liebe mittlerweile fern der Heimat unter Polizeischutz leben. Treffen lassen sie sich nur über Videocalls. Die beiden haben Angst. Deshalb sollen ihre Nachnamen und ihr Aufenthaltsort nicht in diesem Text stehen.

„Wir haben uns bei der Arbeit kennengelernt, es hat gleich geklickt“, erzählt Shifa, schulterlange Haare, floral besticktes Hemd. Sie lächelt, wenn sie über Ankur spricht. Beide sind damals Anfang 20. Shifa hat gerade ihren Master in Psychologie abgeschlossen, die beiden arbeiten als Lehrer für eine NGO. Sie reden viel, irgendwann lange über die offiziellen Meetings hinaus.

Im Sommer 2022, die beiden kennen sich ein Jahr, weiß Shifa, dass er der Mensch ist, mit dem sie ihr Leben verbringen will. Das will sie ihm sagen. „Obwohl wir nicht zusammen sein konnten.“ Ankur ist Rationalist, er glaubt an Vernunft, nicht an einen Gott. Auch Shifa ist nicht strenggläubig. Aber dass sie aus unterschiedlichen Communitys kommen, lässt sich schon an ihren Nachnamen ablesen. Und ihre Eltern dulden keine Partner aus einer anderen Glaubensgemeinschaft.

Shifa gesteht ihre Liebe. Ankur sagt: „Lass uns weglaufen.“ Aber Shifa will ihre Familie nicht verlieren. Ankur sagt: „Dann konvertiere ich zum Islam.“ Auch das wird in beiden Familien auf Widerstand stoßen. Schließlich überzeugt er sie, es wenigstens zu versuchen: ihren Familien zu erklären, was sie einander bedeuten. Ankur sei bedingungsloser Optimist, sagt Shifa. Noch etwas, das sie an ihm liebe. Bis zu seiner Entführung sind es noch sieben Monate.

Unter Premierminister Narendra Modi ist das gesellschaftliche Klima in Indien rauer geworden, für die Minderheiten und besonders für Menschen wie Ankur und Shifa, die sich nicht den gesellschaftlichen Normen beugen. Seit Jahren kursiert die Verschwörungserzählung, dass muslimische Männer hinduistische Frauen heiraten würden, um sie zum Islam zu bekehren und mit diesem „Liebes-Dschihad“ die hinduistische Mehrheitsgesellschaft zu unterwandern.

Hindu-Nationalisten wettern mit dem Märchen vom „Liebes-Dschihad“ gegen interreligiöse Ehen

Es gibt keine Daten, die dieses Narrativ stützen. Die Erzählung aber zieht Jahr für Jahr weitere Kreise: Unter dem Vorwand, den „Liebes-Dschihad“ zu bekämpfen, werden Paare in ganz Indien eingeschüchtert und angegriffen.

Das ermöglicht eine Besonderheit des indischen Rechts. In der konservativen indischen Gesellschaft haben unverheiratete Paare einen schweren Stand: Sie können schwerer Wohnungen anmieten und fürchten Nachteile für ihre Kinder. Das soziale Stigma ist groß, gerade für interreligiöse Paare. Wenn sie heiraten, müssen sie das – im Gegensatz zu allen anderen Paaren – standesamtlich tun. Und diese Ehen regelt der „Special Marriage Act“. Er schreibt vor, dass sich die Paare 30 Tage vor der Heirat mit Namen und Anschrift anmelden müssen – öffentlich. Fanatiker durchforsten die Daten, um die Paare und deren Familien einzuschüchtern. Zudem haben zahlreiche Bundesstaaten zuletzt Gesetze erlassen, die interreligiöse Ehen erschweren: Wer den Glauben wechselt, muss das vorab ebenfalls anmelden und beweisen, dass er nicht durch „falsche Darstellung“, Gewalt, „Verlockung“ oder „betrügerische Mittel“ vom Partner beeinflusst worden ist. Gelingt das nicht, drohen dem „Verführer“ bis zu zehn Jahre Haft. Untersuchungen zeigen, dass bisher fast nur muslimische Männer angezeigt wurden – vor allem von nationalistischen Gruppen.

In dieser Gemengelage ist das Verliebtsein auch ohne Ehe eine Prüfung. Keiner weiß das besser als Asif Iqbal. Sein Büro liegt in einem verwinkelten Viertel im Osten Neu-Delhis. Seit bald 20 Jahren hilft Iqbal Paaren, sich gegen die Liebesverbote zu wehren. „Weil jeder frei wählen sollte, mit wem er das Leben verbringt“, sagt Iqbal, „und weil wir damit an einer Säule des Patriarchats sägen.“ Iqbal lacht.

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Asif Iqbal

Dhanak-Gründer Asif Iqbal weiß, dass die Schwierigkeiten nicht mit der Heiratsurkunde enden: Er lebt selbst in einer interreligiösen Ehe

Der ausgebildete Sozialarbeiter strahlt die überlegte Ruhe aus, die es hier braucht. Die Paare, die zu Iqbal kommen, sind im Ausnahmezustand. „Sie haben Angst, gegen ihren Willen verheiratet oder verschleppt zu werden, Angst vor den Menschen, die ihnen am nächsten sind, und auch vor der Polizei.“

Iqbal kommt aus einer muslimischen, seine Frau aus einer hinduistischen Familie. 2005 gründeten sie mit anderen Dhanak Of Humanity. Mittlerweile hat er fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Fast alle sind „Survivors“, wie sie sich nennen: Überlebende einer Gesellschaft, die sie wegen ihrer Liebe verstoßen hat.

Um Paare vor Zwangsehen, Suiziden und Ehrenmorden zu bewahren, arbeitet der Verein auch mit staatlichen Einrichtungen zusammen. Denn theoretisch haben alle Inder das Recht, ihre Partnerinnen und Partner frei zu wählen. Aber praktisch wird das nicht auf jeder Polizeidienststelle anerkannt. Darum helfen Iqbal und sein Team: Sie helfen dabei, die standesamtliche Heirat anzumelden. Beraten zum Umgang mit den Familien. Und bringen Paare bei akuter Bedrohung in einem „Safe House“ unter, das von der Polizei geschützt werden muss.

Vor Jahren empfahl Indiens Oberster Gerichtshof, dass es solche Häuser im ganzen Land geben soll, mindestens eines pro Distrikt. Heute gibt es solche Schutzräume nur in drei Staaten. Der in Delhi hat Platz für zehn Paare. Seit September leben Ankur und Shifa hier.

„Plötzlich war Ankur einfach nicht mehr erreichbar“, erinnert sich Shifa. Sie wusste, dass er mit seinen Geschwistern weggefahren war. Tagelang bleiben ihre Nachrichten und Anrufe unbeantwortet. Dann schickt Ankur erste Sprachnachrichten. Er habe geweint und verzweifelt gewirkt, erzählt Shifa, und er habe erklärt, sich trennen zu wollen. Zwei Tage später kann Ankur die erste E-Mail an der Überwachung seiner Familie vorbeischmuggeln. „Darin stand, dass er mit mir zusammenbleiben will. Und dass ich dringend Hilfe suchen soll.“

Als sie schließlich heiraten, droht Ankurs Mutte mit Selbstmord. Shifas Mutter bricht den Kontakt ab

Eine Familie sei wie eine Hand, sagen Ankurs Verwandte: Ein einzelner Finger könne nichts, um zuzugreifen, müssen alle Finger kontrolliert handeln. Für Ankur wird seine Familie zur Faust. Eine, die nach ihm und Shifa schlägt. Seine Familie lässt Beziehungen zu radikalen Hindu-Organisationen spielen, droht, Shifa wegen des „Liebes-Dschihads“ anzuzeigen, Auftragsschläger zu ihrer Familie zu schicken. Shifa ist in diesen Wochen allein. Ihre Eltern sind auch gegen die Verbindung, Freunde wenden sich aus Angst vor Schikane ab. Im Mai 2023 findet Shifa im Internet Dhanak, sie ruft Asif Iqbal an.

Bis zu 60 Paare melden sich jeden Monat bei Dhanak. Maximal 40 begleiten Iqbal und sein Team jedes Jahr bis zur Heirat. Viele hätten am Ende doch zu viel Angst und knickten ein, erzählt Iqbal. Wie ihre Geschichten enden, erfährt er nie.

Vor Angriffen sichert Iqbal sich und den Verein durch eidesstattliche Erklärungen der Paare ab. In denen unterschreiben sie, dass sie freiwillig und aus Liebe handeln. Nur so könne man sichergehen, dass die Organisation später nicht angeklagt wird, wenn einer einen Rückzieher macht, erzählt Iqbal. Der Druck auf seine Organisation ist groß. An früheren Standorten randalierten schon aufgebrachte Eltern, die Adressen des Büros und des Safe House sind geheim.

Dieser Text ist im fluter Nr. 89 „Liebe“ erschienen

Für Ankur und Shifa gibt es am Ende nur eine Lösung: Täuschung. Ankur gibt sich zu Hause geläutert. Er betet täglich mit seiner Familie, trennt sich offiziell von Shifa. Nach Wochen des Terrors darf er zurück nach Mumbai. Bald treffen sie sich für wenige Minuten, heimlich, an einer Bahnstation, und planen ihre Flucht nach Delhi. Erst im Flugzeug, es ist Shifas erster Flug, fühlen sie sich wieder sicher. Sie schlafen einen Monat lang im Büro von Dhanak. Tagsüber wird ihr Zimmer als Beratungsraum genutzt.

Am 11. Oktober 2023 kehren Ankur und Shifa für einen Tag zurück nach Mumbai: um zu heiraten. Unter Polizeischutz. Ihre Eltern informieren sie vorab telefonisch. Ankurs Mutter droht mit Selbstmord, Shifas Mutter bricht den Kontakt ab. Aus ihrem Freundeskreis traut sich niemand zur Hochzeit. Trauzeugen sind „Überlebende“ aus dem Dhanak-Netzwerk.

Er erlebe oft, erzählt Asif Iqbal, dass die Familien nach einer Zeit doch einlenken und die Ehe hinnehmen. Das sei bei ihm selbst so gewesen: Mit den Jahren verblasse die Erinnerung an die Verletzungen, und übrig bleibe eine Lücke, das gegenseitige Nicht-Verstehen. „Diese Paare“, sagt Iqbal, „stellen das System infrage. Darum werden sie so harsch bekämpft. In jeder dieser Lieben liegt Kraft für Veränderung.“

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.