Manche, die in Petra Winklers Sprechstunde aufschlagen, haben den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen, andere eine Schwangerschaft. Als Sexualpädagogin weiß Winkler, was es bedeutet, wenn die Familie über das Liebesleben von Jugendlichen bestimmen will: Im Beratungszentrum Pro Familia berät sie jeden Tag junge Menschen.
fluter: Sie beraten seit mittlerweile 35 Jahren Jugendliche. Was hat sich in dieser Zeit geändert?
Petra Winkler: Gesellschaftliche und politische Entwicklungen schlagen sich auch in unserem Angebot nieder. Als es Schwangerschaftstests noch nicht in jeder Drogerie günstig zu kaufen gab, haben wir die angeboten. Genau wie die Pille danach, als es sie noch nicht rezeptfrei gab. Große Verunsicherung herrscht immer noch beim Thema hormonelle Verhütung, also durch die Pille oder Hormonspiralen. Und auch durch die Migration ergeben sich hier neue Konstellationen.
Kommen Jugendliche mit Migrationshintergrund mit anderen Problemen?
Da gibt es keine Automatismen, ausschlaggebend ist immer die individuelle Lebenswelt. Je nach Familie können aber bestimmte kulturelle Wertvorstellungen eine Rolle spielen. Jugendliche, die hier in einem offenen Umfeld zur Schule gehen, im Elternhaus aber ganz andere, aus meiner Sicht konservative, Lebensmodelle vorgelebt bekommen, bewegen sich zwischen diesen beiden Welten. Die Fähigkeit, tagtäglich zwischen diesen Systemen zu switchen, sehe ich als Stärke.
Wann wird es problematisch?
Zum Beispiel, wenn Jugendliche eine Beziehung verheimlichen müssen, weil die Eltern sagen, die würde die Familienehre beschmutzen. Manche Jugendliche fürchten, zu Hause Gewalt zu erfahren oder verstoßen zu werden. Solche Restriktionen betreffen vor allem junge Frauen, den Männern werden tendenziell mehr Freiräume zugestanden. Zu immens belastenden Situationen kommt es, wenn aus einer solchen Beziehung eine Schwangerschaft entsteht. Oft entscheiden Paare, die Schwangerschaft abzubrechen, damit niemand davon erfährt. Und nicht selten bin ich die einzige Person, die weiß, was diese beiden Menschen gerade beschäftigt.
„Wichtig ist, die jungen Menschen darin zu bestärken, dass sie für sich und ihre Lebens- und Liebeswünsche einstehen“
Wie können Sie in solchen Fällen helfen?
Ich überlege, was die Jugendlichen brauchen, um sich sicherer zu fühlen. Ihre Lebenswelt kann ich als Beraterin nicht ändern, aber ich kann entlasten, die Trauer auffangen, die Angst nehmen, sachlich informieren. Dabei respektiere ich jede Entscheidung, auch wenn ich es selbst manchmal anders machen würde. Wichtig ist, die jungen Menschen darin zu bestärken, dass sie für sich und ihre Lebens- und Liebeswünsche einstehen. Das heißt auch, dass niemand anderes als das Paar entscheiden darf, ob es ein Kind bekommt oder nicht.
Bitten Jugendliche Sie manchmal, mit den Eltern zu sprechen?
Ganz selten. Wir würden das tun, aber meist sind die Vorgaben zu Hause so streng, dass die Jugendlichen wenig Hoffnung haben, etwas zu bewegen. Dazu kommen psychische Gründe, etwa die Angst, die Eltern zu enttäuschen, oder die Scham, weil die Eltern erst durch die Schwangerschaft erfahren würden, dass man schon Sex hat.
In Deutschland leben mindestens 1,5 Millionen binationale Paare zusammen. Gibt es Eltern, für die nicht die Beziehung an sich, sondern die Herkunft des Partners das Problem ist?
Ja, und da sitzen auch viele deutschstämmige Eltern auf diskriminierenden Klischees. Für die ist ein Problem, dass der Freund der Tochter türkisch ist. Das geht nicht spurlos an den Paaren vorbei.
Richtige Romeo-und-Julia-Situationen.
Der Widerstand draußen ist das eine. Aber natürlich kriselt es auch innerhalb solcher Beziehungen mal. Und dann können die sich im Ernstfall nicht an die Familien wenden, weil dort das Vertrauen fehlt. Das macht heimliche Beziehungen anfälliger für Gewalt, auch sexuelle Gewalt.
Dieser Text ist im fluter Nr. 89 „Liebe“ erschienen
Mit welchen Vorstellungen und Vorgaben sind denn Jugendliche in deutschstämmigen Familien am häufigsten konfrontiert?
Die Vorstellung, dass Sex vor der Ehe tabu ist, hält sich auch in deutschstämmigen Familien hartnäckig. Und bestimmte Rollenbilder: Viele haben klare Vorstellungen davon, was typisch männlich ist und was weiblich, und dazwischen gibt es nichts.
Was bedeutet das für queere Jugendliche?
Die traditionellen Geschlechterbilder machen es ihnen oft noch schwerer, herauszufinden, wer sie sind, wen und was sie begehren. Zu uns kommen LGBT-Personen, die Angst haben: vor Diskriminierung, vor dem Coming-out oder weil sie eine heimliche Beziehung führen. Das ist ganz unabhängig von Herkunft und Hintergrund.
Titelbild: Marcus Glahn