„Wohnungsnot in Berlin?“, Rouzbeh Taheri, Sprecher der Initiative „Mietenvolksentscheid“ macht eine kleine Pause, und sein Schweigen klingt, als würde er am anderen Ende der Leitung spöttisch lächeln. „Wohnungsnot?! Davon wollte die Politik in Berlin bis 2011 doch gar nichts wissen.“ Dass die deutsche Hauptstadt nicht nur arm ist, sondern auch arm an Wohnungen, das weiß mittlerweile jedes Kind. Im vergangenen Jahr kamen mehr als 40.000 Menschen nach Berlin. In diesem Jahr werden es über 70.000 sein. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) müssten bis 2020 jedes Jahr rund 20.000 bezahlbare Wohnungen gebaut werden, um den Bedarf in Berlin zu decken.
Weitere Zahlen, die einen Eindruck von der Dramatik der Lage vermitteln: 85 Prozent der 3,5 Millionen Hauptstädter wohnen zur Miete, 20 Prozent leben von Sozialleistungen – während die Mieten seit 2010 durchschnittlich um rund 32 Prozent gestiegen sind. Investoren und Besserverdiener tragen zur Anspannung des Wohnraummarktes entscheidend bei. Entsprechend groß ist die Angst einkommensschwacher Menschen vor Verdrängung.
So schätzt auch Taheri die Lage ein, der in Neukölln Geschäftsführer eines kleinen Unternehmens ist, lange in der PDS und der WASG aktiv war und sich heute in der „Berliner MieterGemeinschaft“ engagiert, einer der vielen Mieterorganisationen der Stadt. Die warnen seit Jahren vor einer explosiven Stimmung und haben sich im September 2014 mit anderen Initiativen, Anwälten und Privatpersonen zusammengetan, um etwas gegen die Situation zu unternehmen: mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen und den sozialen Wohnungsbau fördern. „Die Politik brauchte einen Anstoß“, sagt Taheri. „Schließlich hat sie viele Jahre geschlafen und erst dann was getan, als das Fass bereits überlief.“ Unter der rot-roten Regierung, die von 2002 bis 2011 die Geschicke des Berliner Senats bestimmte, sei der Wohnungsbau nur sehr schleppend voran gekommen.
Das entspricht der offiziellen Position von Taheris Verein „Berliner MieterGemeinschaft“, die der bemängelt, der Sozialwohnungsbau habe in dieser Zeit so gut wie gar nicht mehr stattgefunden. Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, die für bezahlbare Wohnungen sorgen sollen, hätten stattdessen agiert wie private Unternehmen. Nach der Lesart der Aktivisten war dies ein Relikt des wirtschaftsliberalen Programms früherer Regierungen, und leistete mehr dem Profitstreben großer Investoren Vorschub, als den Wohnbedürfnissen der Einkommensschwachen gerecht zu werden.
Volksentscheid in Berlin als Mittel der politischen Mitbestimmung etabliert
„Uns war klar, dass wir die Stimmung in der Stadt ausnutzen konnten, um einen Volksentscheid zu forcieren“, sagt Taheri. Es wurde also ein Verein gegründet, der „Mietenvolksentscheid e. V.“ – mit Taheri als Sprecher. In sechsmonatiger Arbeit konzipierte man einen Gesetzesentwurf (das „Gesetz über die Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung in Berlin“), der als Grundlage des Volksentscheids dienen sollte. „Dabei mussten alle an einem Strang ziehen“, sagt Taheri, „ohne Rücksicht auf die spezifischen Probleme, mit denen die unterschiedlichen Initiativen in ihrem Alltag zu kämpfen haben.“ Die Zuversicht war groß genug, um diesen Kraftakt auf sich zu nehmen. Denn es gab da schon einen Präzedenzfall: „Seit dem Volksentscheid über die Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge bei den Berliner Wasserbetrieben im Jahr 2011 hat sich der Volksentscheid in Berlin als probates Mittel etabliert, um die Politik von unten beeinflussen zu können.“
Im März ging die Initiative an die Öffentlichkeit, erntete Beifall von den Grünen und Anerkennung von der SPD. Andreas Geisel (SPD), Senator für Stadtentwicklung, erklärte, dass der Vorschlag in die richtige Richtung gehe, dass der Senat aber bereits auf vielen Baustellen des Wohnungsmarktes aktiv sei. Dem Rundfunk Berlin-Brandenburg sagte Geisel: „Wir erhöhen das Angebot bezahlbarer Wohnungen in Berlin, haben leistungsfähige kommunale Wohnungsunternehmen und setzen uns dafür ein, dass die Mieten im sozialen Wohnungsbau auch künftig bezahlbar bleiben.“
Von Ende März bis Ende Mai 2015 musste „Mietenvolksentscheid e. V.“ 20.000 Unterschriften sammeln, um ein Volksbegehren auf den Weg zu bringen. Es wurden rund 50.000. Dieser Erfolg setzte den Senat, in dem seit 2011 eine Koalition aus CDU und SPD regiert, unter Druck. Die Opposition forderte den Senat auf, in ernsthafte Verhandlungen mit der Initiative zu treten. „Wir haben die Initiative von Anfang an sehr ernst genommen, und wir fanden auch viele Punkte in dem Gesetz richtig“, sagt hingegen Iris Spranger, baupolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, und betont, dass zunächst noch einige Differenzen überbrückt werden mussten. Laut Spranger hatte der Gesetzesvorschlag des Vereins etwa nur einen kleinen Teil der Mieter im Blick, und auch bei den Kosten, die das für den Berliner Haushalt verursachen würde, gab es verschiedene Schätzungen. Aber die SPD-Fraktion und die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung unter Leitung von SPD-Mann Andreas Geisel zeigten sich relativ schnell kooperativ und führten bereits seit Ende Mai Sondierungsgespräche mit der Initiative.
Der Durchbruch: Gesetzesentwurf der Initiative wurde in weiten Teilen übernommen
„Die haben uns in Gesprächen erst mal auf unsere Kompetenz abgeklopft“, sagt Taheri. „Sie wollten sehen, ob wir so fachkundig sind, dass wir ihnen auf Augenhöhe begegnen können.“ Eigentlich sollte der Mietenvolksentscheid noch vor den Senatswahlen im September 2016 stattfinden. Doch dieser hätte die Regierung massiv unter Druck gesetzt. Ihr Argument: Förderung des sozialen Wohnungsbaus, ja. Aber ein erfolgreiches Referendum würde einen Großteil der Sozialmittel im Haushalt binden. Deswegen bemühte sich die Regierung um einen Kompromiss. Sie erinnerte sich wohl auch noch gut an die Pläne für eine Randbebauung des Tempelhofer Feldes, die 2014 in einem Volksentscheid komplett gekippt worden waren. Damals hatte die Regierung nicht auf Dialog mit den Bürgerinitiativen gesetzt und damit daraufhin eine herbe Niederlage erlitten.
Nach wochenlangen zähen Gesprächen und Verhandlungen Mitte August dann der Durchbruch: Der Gesetzesentwurf des Vereins „Mietenvolksentscheid e.V.“ wurde in weiten Teilen übernommen und beim Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses eingereicht. „Trotz aller Differenzen, die wir hatten, war es doch eine unglaublich konstruktive Atmosphäre“, meint die baupolitische Sprecherin der SPD-Fraktion Spranger. „Ich habe so sehr viele Leute kennengelernt, die um das Wohl unserer Stadt bemüht sind.“ Die Abstimmung über das Gesetz im Senat ist nun für November geplant, um es zu verabschieden, müssten über die Hälfte der Abgeordneten zustimmen. Zwar wurde das Gesetz von einigen Kritikern als nicht weitreichend genug beanstandet, fand in der Hauptstadtpresse aber größtenteils einen positiven Widerhall – als gelungene Initiative von unten. Es war das erste Mal, dass eine Initiative an der politisch-gesetzlichen Rahmenregelung für den Wohnungsmarkt in Berlin direkt beteiligt war.