Am Frankfurter Flughafen kamen sich vor ein paar Jahren zwei Riesenflieger gefährlich nah. Auf der einen Seite der Airbus A380, für dessen Werft ein Wäldchen weichen sollte. Auf der anderen Seite der Hirschkäfer, der in diesem Wäldchen zu Hause war. In meiner Kindheit im Pfälzerwald musste man diesem gemächlich durch die Lüfte gondelnden Giganten förmlich ausweichen, so viele davon schwärmten im Mai umher. Das ist vorbei. Heute steht das kuriose Ungetüm auf der Roten Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands.
Es ist die moderne Forstwirtschaft mit ihrem Hang zum Aufräumen, die den Hirschkäfer an den Rand des Aussterbens gebracht hat. Im Rahmen der Flurbereinigung soll jedes Gebiet den größtmöglichen Nutzen bringen. Alternde Bäume und tote Stämme stören bei der Forstbewirtschaftung und dürfen nicht im Wald liegen bleiben. Seitdem findet nicht nur der Hirschkäfer kaum mehr Eiablageplätze. Sein Verschwinden ist, wie das der aussterbenden Bienenvölker, nur ein besonders deutliches Zeichen für eine ökologische Katastrophe, die sich nicht am fernen Amazonas oder in chinesischen Industriegebieten ereignet. Sondern vor unserer Haustür.
Zuletzt sorgte eine Studie von Insektenforschern aus Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden für Auf- sehen. Die Entomologen hatten über 27 Jahre an 63 verschiedenen geschützten Standorten und in mehr als 1.500 einzelnen Messungen ermittelt, dass die Biomasse der eingefangenen Insekten dramatisch zurückgegangen ist. Es gibt kaum Zweifel daran, dass mit dem Schwinden der Masse auch das Aussterben im Kleinen und Allerkleinsten voranschreitet. Stark rückläufig sind beispielsweise die Bestände von Wiesenschmetterlingen in Europa, Schätzungen zufolge um bis zu 50 Prozent zwischen 1990 und 2011. Es geht offenbar gerade in aller Stille eine ganze Welt verloren. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie reichen von monokultureller und intensivierter Landwirtschaft für die Fleisch- und Energieproduktion über die Zuführung von Pestiziden und Überdüngung mit Gülle bis zur Versiegelung von Flächen und der Überbauung von Brachen. Der Marienkäfer überwintert in den Spalten von altem Holz, im Frühjahr macht er sich auf die Suche nach Blattläusen. Auf einem versiegelten Acker findet er keins von beidem. Hoch spezialisierten Sechsbeinern, deren Lebensraum oft nur wenige Quadratmeter umfasst, ist systematisch die Lebensgrundlage entzogen worden. Und damit auch Fröschen, Fischen, Echsen oder Vögeln, die wiederum von diesen Insekten leben.
Ein Problem ist das nicht etwa aus romantischen, sondern aus ganz praktischen Gründen. In gesunden Ökosystemen hängt alles mit allem zusammen. Der Mensch ist Teil eines Ganzen, dessen Fundament die Insekten sind. Bricht die kleine Welt weg, geraten auch die Grundlagen der großen Welt ins Rutschen. Denn nicht nur Bienen, auch Käfer, Motten, Wespen und andere Vertreter des wirbellosen Flugpersonals bestäuben weltweit Pflanzen jeder Art – etwa Apfelbäume. Damit fallen eben auch Obst und Gemüse weg, auf die wir Menschen angewiesen sind. Wenn die Insekten nicht mehr bestäuben, müssen die Menschen ran und, wie heute schon in der chinesischen Provinz Sichuan, Obstbäume per Hand bestäuben.
Gemessen an der Größe der Katastrophe erscheinen die Möglichkeiten zum Gegensteuern überraschend simpel. Intensiv genutzte Ackerflächen sollten schrumpfen oder doch wenigstens um wilde Wiesen und Äcker ergänzt werden. Eine Agrarwende zu mehr Nachhaltigkeit würde helfen. Parallel zur Politik sind aber auch die Verbraucher gefordert. Die ungebremste Nachfrage nach billigem Brot und Fleisch macht den Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden erst nötig.
Zuletzt lässt sich mit wenigen Mitteln die pflegeleichte Monokultur des heimischen Gartens in ein Paradies für Summ- und Krabbelgetier verwandeln. Mit Insektenhotels kann sogar ein Balkon in der Stadt zu einem winzigen Refugium für Wildbienen und andere Insekten gemacht werden. Und eine Maßnahme, die Ökonomie und Natur gleichermaßen nützte, unternahm die Stadt Augsburg: Das Tiefbauamt ließ 25.000 veraltete Quecksilberleuchten und Leuchtstoffröhren in Straßenlaternen gegen moderne Natriumhochdrucklampen austauschen. Die Umrüstung lohnt sich nicht nur finanziell für die Stadt, sondern hilft auch den Insekten: Weil diese sich am kühlen Mondlicht orientieren, lockt sie das gelbliche Licht der neuen Lampen viel weniger an. Zehnmal weniger Insekten sterben dadurch nachts in Augsburg, und die Lampen müssen seltener gereinigt werden. Trotzdem verenden vielerorts noch immer Nacht für Nacht haufenweise Insekten im Licht der Laternen, allein in Deutschland sollen es schätzungsweise mehr als eine Milliarde sein.
Für die Hirschkäfer am Frankfurter Flughafen konnte die Katastrophe abgewendet werden. Die Werft für das Flugzeug ist zwar längst gebaut, aber die Eichenbaumstümpfe mit den Larven des Hirschkäfers wurden umgesiedelt. Seine Population hat sich erholt, die schleichende Katastrophe ist damit aber nicht abgewendet. Nur vertagt.