Viel hatte Ahmad nicht mit, aber ohne einen Gegenstand wäre er auf der langen Reise vollkommen verloren gewesen: sein Smartphone. Den 15-stündigen Fußmarsch von Griechenland nach Mazedonien etwa hätten sie ohne GPS und Google Maps nie geschafft. Um Akku zu sparen, hat der Leiter, der ihrem 50-Leute-Track voranging, das Handy immer wieder ausgeschaltet, sobald die Richtung für den nächsten Abschnitt stand. Und um unterwegs jenseits aller Steckdosen lange mit dem Strom hinzukommen, schalteten sie abwechselnd das Smartphone ein.
Ohne das Handy hätte Ahmad keinen Kontakt zu seiner Familie halten können, die er in Syrien zurückgelassen hat. Ohne das Handy hätte er Kumpels, die noch nicht so weit auf der Fluchtroute waren, nicht sagen können, welche Abzweigungen sicher sind. Und ohne die Fotos und Textnachrichten von Flüchtlingen, die vorangegangen waren, hätte er nicht gewusst, an welcher Stelle im Wald er zu welcher Zeit sicher die Grenze zu Ungarn passieren konnte. „Das Telefon ist neben der Geldbörse vielleicht das Wichtigste auf der Flucht“, sagt Ahmad heute.
Seit Juli 2015 lebt der 25-Jährige in Augsburg. Und auch hier in Deutschland ist das Smartphone ein wichtiges Instrument, um sich zu orientieren. Es gibt Facebook-Gruppen, in denen sich Tausende geflüchtete Syrer versammeln und einander Alltagstipps geben. Ein Freund aus Ahmads Heimatdorf in Syrien, der inzwischen in Hannover lebt, hat für seine Landsleute eine Sprachlern-App entwickelt. Mit ihr hat auch Ahmad die ersten deutschen Wörter gelernt.
Allein im Herbst 2015 sind über 30 Apps für Integration entstanden
Forscherinnen und Forscher der FU Berlin haben in einer Umfrage belegt, wie wichtig das Handy für Geflüchtete ist: Etwa 80 Prozent der Syrer und Iraker, die ihr Land verlassen haben, hatten Zugang zu einem Smartphone, das ihnen Orientierung und Hilfe in Notsituationen bot. Und wer unterwegs keines gebrauchte, tut es spätestens in Deutschland, wie die Studie zeigt. Könnte man ihnen mit der richtigen App also nicht helfen, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden?
Genau das versucht zum Beispiel Daniel Kehne. Er ist Projektkoordinator der App „Integreat“, die am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik der TU München mitentwickelt wurde. Die Idee: Kommunen und Landkreise können die App für sich anpassen und Flüchtlingen so einen digitalen Wegweiser bereitstellen. Wo gibt es eine Beratungsstelle? Wer bietet Sprachkurse an? Wann hat die Ausländerbehörde geöffnet? „Unsere App spricht sich inzwischen herum“, sagt Kehne. „Im Moment bekommen wir drei bis fünf Anfragen jeden Monat von Städten und Gemeinden, die mit uns zusammenarbeiten wollen.“ Städte wie Bochum, Nürnberg und Regensburg sind bereits als Partner von Integreat dabei.
Es gibt eine Reihe ähnlicher digitaler Orientierungsangebote. Ganz offiziell zum Beispiel stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die App „Ankommen“ zum Download bereit. Die „Welcome App“, die Entwickler aus Dresden programmiert haben, richtet sich inzwischen nicht mehr nur an Asylsuchende, sondern auch an Arbeitsuchende aus der EU oder Erasmus-Studierende.
Als 2015 plötzlich und für manche überraschend sehr viele Flüchtlinge in Deutschland ankamen, brach in der Tech-Szene eine regelrechte Gründungseuphorie aus. Unzählige Projekte wurden angeschoben und immer neue Ideen geboren, wie man den Neuangekommenen eine bessere Zukunft programmieren könnte. Das Betterplace Lab, eine Organisation, die erforscht, wie sich Technik für soziale Zwecke nutzen lässt, zählte in einer Studie im vergangenen Jahr mehr als 100 Digitalprojekte für Flüchtlinge.
Ein Drittel all dieser Apps und Online-Plattformen entstand dabei im Herbst 2015 – der Zeit, in der die Asylanträge stark anstiegen. Im Oktober 2015 kamen 300 Menschen zu einem „Refugee Hackathon“ in Berlin zusammen, eine zentrale Veranstaltung vieler damaliger Initiativen. An 18 Ideen tüftelten die Teilnehmer auf der Programmiererkonferenz.
Etwa an einer digitalen Wohnungsbörse, die Geflüchtete und Menschen zusammenbringen sollte, die ihnen ein Zimmer zur Verfügung stellen können. Oder an einer Gutschein-Börse, auf der Unternehmen Coupons für Windeln, Kleidung, Haarschnitte, Kinotickets, Restaurantbesuche oder Sprachkurse einstellen können – ähnlich wie Groupon.
Oder an einer Online-Plattform, die die Neuangekommenen durch das Registrierungschaos beim damals völlig überforderten Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) lotsen sollte. Freiwillige Helfer vor Ort sollten die Wartenummern von der Anzeigetafel der Behörde in die Online-Börse eintragen, sodass die Flüchtlinge nicht tagelang vor dem Amt ausharren mussten, um zu wissen, wann ihr Fall an der Reihe ist.
Per App den richtigen Fluchtweg finden
Die Internetaktivistin Anke Domscheit-Berg, die mittlerweile für die Linke im Bundestag sitzt, hat den Hackathon damals initiiert. Fragt man sie heute, drei Jahre später, nach ihrem Fazit aus den digitalen Projekten der Konferenz, klingt Ernüchterung durch. „Es waren viele engagierte Menschen da mit guten Ideen“, sagt sie. „Aber vieles ist inzwischen tatsächlich versandet, weil die Macherinnen und Macher keine Finanzierung bekamen.“ Eine Weile trägt der Enthusiasmus, aber irgendwann braucht auch die cleverste Hilfs-App Geld, um am Leben zu bleiben – für Server, für Personal, für Programmierer. Bei der Suche nach Kapital hätten soziale Projekte es leider immer noch schwer.
Aber das ist oft nicht der einzige Grund, warum sogar besonders originelle Ideen am Ende oft scheitern. Das zeigt das Projekt von Andzelika Ner, 39 Jahre alt. Ner hatte sich im Flüchtlingsjahr 2015 in einer NGO in Kiel engagiert, die sich um Kleiderspenden für die Neuangekommenen kümmerte oder ihnen für ein paar Nächte eine Herberge gab, wenn sie nach Schweden oder Finnland weiterreisen wollten. Ner fragte sich: Wie bewältigt man als Flüchtling diese lange Strecke? Auf ihren eigenen Reisen bucht Ner Züge und Unterkünfte unterwegs per App. Aber wie planen Flüchtlinge ihre Tour, denen die offiziellen Wege mitunter versperrt sind?
„Viele Menschen auf der Flucht vertrauen da auf Informationen, die zum Beispiel über Facebook verbreitet werden“, sagt Ner. „Leider sind auf diesen Seiten auch oft Schleuser unterwegs.“ Nicht alle Informationen stimmen. Ner meldete sich daher mit einer Idee für den Hackathon an: In einer „Refugee Transit App“ tragen Unterstützer und Hilfsorganisationen ein, wo auf der Strecke Gefahren lauern. Welche Küstenabschnitte sind sicher? Wo haben sich plötzlich Grenzen geschlossen und wo geöffnet? Gibt es Schleuser, vor denen zu warnen ist? Ein Fluchtnavigator für das Handy sollte entstehen, den man auch offline nutzen kann.
Am Ende blieb es bei einer Idee. Es hätten die Helfer gefehlt, die die vielen Informationen von den vielen Punkten der Fluchtroute in dem digitalen Angebot hätten zusammentragen können, sagt Ner. „Es ging damals drunter und drüber, und wirklich Luft für diese App hatte keiner.“
Das Ende einer Idee
Aber vor allem eine Sache hat sich mit der Zeit geändert: Die Politik wurde restriktiver, überall in Europa. Auch auf Druck vieler Bürgerinnen und Bürger wurde die Balkanroute geschlossen, Deutschland vereinbarte ein Abkommen mit der Türkei, das zum Ziel hatte, dass weniger Flüchtlinge nach Europa übersetzen. Die noch halbwegs offenen Grenzen, über die eine App Flüchtlinge sinnvoll lotsen könnte, waren bald nach dem Sommer 2015 wieder verschlossen.
Die Geschichte der „Refugee Transit App“ zeigt damit auch die Grenzen einer Weltsicht, die der Internettheoretiker Evgeny Morozov einmal als Solutionismus bezeichnete: den Glauben, sämtliche sozialen Herausforderungen ließen sich mit der richtigen Technik lösen. Es sind die Bevölkerung und die große Politik, die entscheiden, wer kommen kann und wer nicht – und damit letztlich auch festlegen, wann eine App eine Hilfe ist und wann eine originelle Idee sinnlos wird. Die Rahmenbedingungen lassen sich nicht wegprogrammieren.
Ahmad hat es 2015 nach Augsburg geschafft. Er hatte noch versucht, sich die Infos zur Strecke von anderen Flüchtenden zu besorgen, Mund-zu-Mund-Propaganda per WhatsApp sozusagen. Hätte es die „Refugee Transit App“ damals schon gegeben, sagt er, hätte sie vielleicht manches erleichtert. „Momentan hilft sie aber keinem mehr.“
Die Fotos sind im August 2015 vor dem Berliner Lageso, wo sich Asylbewerber registrieren lassen mussten, entstanden. Der Fotograf Grey Hutton bekam von der Behörde keine Erlaubnis, die Gesichter der Wartenden zu fotografieren. Also konzentrierete er sich auf ihre Smartphones – und ließ sich die Geschichten der Flucht erzählen. Die Fotos sind zuerst auf vice.com erschienen.