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„Warum sind wir getrennt?“

Hadija Haruna-Oelker stellt in ihrem Buch „Zusammensein“ die großen Fragen sozialer Gerechtigkeit – einerseits als Journalistin, andererseits als Mutter eines Kindes mit Behinderung

Eine Frau im Rollstuhl steht vor einer Bordsteinkante

fluter.de: Hadija Haruna-Oelker, der Titel Ihres Buches lautet „Zusammensein – Plädoyer für eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit“. Warum braucht es ein solches Plädoyer gerade jetzt?

Hadija Haruna-Oelker: Gerade spüren viele Menschen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt auseinandergeht, man nicht mehr miteinander ins Gespräch kommt. Wir sehen wie antidemokratische Kräfte stärker werden. Ich begreife mein Buch auch als einen Appell, all dem entgegenzutreten.

Als Schwarze Mutter eines Kindes mit Behinderung haben Sie einen persönlichen Bezug zu der Frage nach Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Ich bin in meiner Arbeit einerseits Fach-Expertin, andererseits „Miterfahrungs-Expertin“, denn die Erfahrung von Behinderung macht mein Kind, das ich begleite. Und das Lernen über behinderte Menschen zeigt für mich sehr deutlich, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Sie ist darauf ausgerichtet, Menschen nach Nützlichkeit zu sortieren und auszusondern. Es ist ein sozialdarwinistisches Denken – vielleicht auch, um es sich leichter zu machen. Ich beschäftige mich schon lange mit der Frage, wie die unterschiedlichen Positionen von marginalisierten Gruppen, ihre Anliegen und Erfahrungen anerkannt und miteinander ins Gespräch gebracht werden können. Das findet gerade viel zu wenig statt.

Sie kritisieren ein falsches Verständnis von Inklusion. Wie sollte Inklusion Ihrer Meinung nach verstanden werden?

Viele nichtbehinderte Menschen verstehen unter Inklusion die Einbeziehung von behinderten Menschen, eine Form ihrer Integration in die Gesellschaft. In der Theorie bedeutet Integration ein Angleichen und ein sich aufeinander zu Bewegen von Menschen in einer Gesellschaft an einem Ort. Inklusion ist aber, einen komplett neuen Ort zu denken, auf den sich alle zubewegen um dann auszuhandeln, wie alle dort gut mit ihren Bedürfnissen zusammenleben können. Und dafür müssen sich viele Routinen und Abläufe ändern. Wir müssen mehr an uns selbst arbeiten – das ist auch anstrengend. Deshalb findet Inklusion vielerorts gar nicht statt. Darum ist, überspitzt gesagt, Inklusion in der Schule auch nicht gescheitert – wie es oft heißt –, weil sie gar nicht erst begonnen wurde. 

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Zusammensein – Plädoyer für eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit

Hadija Haruna-Oelker: „Zusammensein – Plädoyer für eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit“ ist am 16. Oktober 2024 erschienen

Wie könnte Inklusion, beispielsweise im Bildungssystem, also funktionieren?

Ableistisches Denken ist tief in unsere Gesellschaft und in den Köpfen vieler Menschen verankert. Und es gibt viele Menschen, die glauben, dass Kinder, die unterschiedlich sind, nicht miteinander lernen können. Das stimmt aber so nicht: Um einen funktionierenden inklusiven Klassenraum zu gestalten, geht es um Ausstattung und Wissen der Lehrkräfte, um eine entsprechende Didaktik geht, die nicht Standard ist. Denn es reicht nicht, behinderte und nichtbehinderte Kinder einfach nur zusammen in einen Klassenraum zu setzen. Inklusion ist nicht nur für behinderte Kinder da, sondern für alle, weil sie ein gesellschaftliches Prinzip eines Miteinanders bedeutet, das alle mit ihren jeweiligen Möglichkeiten anerkennt, unterstützt, fördert und niemanden ausschließt. Wir sollten darum kritisch fragen: Was sind Potenziale und Talente von Kindern, für was ist Schule da und ist sie das für alle?

Inklusion wird also nicht als etwas verstanden, das alle weiterbringt?

So denken unterbewusst viele Menschen. Die Sorge mancher Eltern ist: Mein nichtbehindertes Kind kommt nicht weiter, wenn es mit einem behinderten Kind zusammen lernt. Schule ist dazu ein machtvoller Raum. In dem die unterschiedlichen Bedürfnisse vieler Kinder und junger Menschen in einem Klassenraum oder Hörsaal zusammenkommen, wo beispielsweise auch arme, geflüchtete und Menschen, die in reicheren Milieus sozialisiert wurden, miteinander lernen. Also ein Ort, an dem immer Vielfalt herrscht und in den am wenigsten investiert wird, um den inklusiven Gedanken und eine entsprechende Kultur zu fördern. 

„Ich sehe, wie viel Potenzial in jungen Menschen steckt. Sie sind viel flexibler als Erwachsene, die vor langer Zeit gelernt haben, unsere Unterschiede abzuwerten“

Weshalb erfahren behinderte und marginalisierte Menschen noch immer Ausgrenzung und Diskriminierung? 

Die grundlegende Frage ist: Warum sind wir getrennt? Schon in der Schule werden Kinder nach ihrer Leistung getrennt, das Schulsystem war immer separierend. Wirklich zusammen waren wir nie. Die so genannten Euthanasie-Programme der NS-Zeit, ein Begriff der für einen vermeintlich guten Mord stand,haben diese frühe Trennung von behinderten und nichtbehinderten Menschen entscheidend geprägt. Denn sie kategorisierten Menschen nach einer Norm von funktionierenden und gesunden Körpern, denen man entsprochen hat oder eben nicht. Und vieles von diesen Systemen und Denken über Körper ist erhalten geblieben. Zum Beispiel die Sondersysteme, die für behinderte Menschen geschaffen wurden mit der Erzählung, sie seien zum Schutz der Menschen mit Behinderung. Nach 1945 hat über das Kapitel der Morde an etwa 300.000 behinderten und chronisch kranken Menschen zu wenig Aufarbeitung stattgefunden – das Stigma der Behinderung blieb erhalten. Diese Hierarchisierung zwischen behindert und nichtbehindert sein lebt damit bis heute fort und immer wieder wird erklärt, wem sie vermeintlich hilft, auch von rechten Parteien. 

Wer müsste handeln, damit in unserer Gesellschaft vor allem Kinder und Jugendliche nicht diskriminiert werden? Wir selbst oder die Politik?

Ich glaube, es braucht beides: die Zivilgesellschaft und politische Kräfte. Ich sehe, wie viel Potenzial in jungen Menschen steckt. Sie sind viel flexibler als Erwachsene, die vor langer Zeit gelernt haben, unsere Unterschiede abzuwerten - für sie gibt es viel zu verlernen. Darum ist es wichtig zu verstehen, was Ableismus, also die Abwertung, Diskriminierung und Feindlichkeit gegenüber behinderten Menschen bedeutet. Erst wenn wir uns bewusst machen, welche Privilegien mit bestimmten Normen in unserer Gesellschaft einhergehen - zum Beispiel hörend und nicht taub zu sein, können wir verstehen, wer ausgeschlossen wird und wie sich das ändern lässt. Auf politischer Ebene braucht es dazu in Deutschland bessere und klarere Gesetze und in Bezug auf Behinderung mehr als nur die Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention in 2009.

Wie beurteilen Sie als Politikwissenschaftlerin den Zustand der Demokratie in Deutschland?

Inklusion ist ein Prinzip der Demokratie. Und über Demokratie reden heißt über Grundrechte und Menschenrechte zu sprechen. Nicht nur Rassismus und Antisemitismus zerstören die Demokratie, sondern auch sozialdarwinistische Einstellungen in der Gesellschaft, die beispielsweise auch arme oder wohnungslose Menschen als weniger wertvoll und nützlich für die Gesellschaft betrachtet. Es braucht für junge Menschen eine andere Art der Ansprache, um ein Verständnis für die Demokratie zu vermitteln. Auch was es für sie bedeuten würde, wenn es sie nicht mehr gäbe. Junge Menschen sind politisch und Sprache hat Macht. Ich erlebe es bei meinem jetzt acht Jahre alten Sohn: Wie er die Menschen um sich herum wahrnimmt, ohne sie zu bewerten. Und wie das erst durch äußere Einflüsse passiert. Erwachsene sehen, bewerten und betonen oft die Defizite. Für mich ist es schön, dass wir alle unterschiedlich sind – und wir sollten auch auf jeden Fall darüber reden. Die Frage ist, wie. Ich denke, wer sich selbst wahrgenommen und angenommen fühlt, ist auch bei anderen mehr dazu bereit, das zu tun. So lässt sich der Gedanke von der Akzeptanz von Vielfalt vom einzelnen auf die Gesellschaft übertragen.

Hadija Haruna-Oelker ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Journalistin, Autorin und Moderatorin. Ihre Schwerpunkte sind sind Jugend und Soziales, Rassismus- und Diversitätsforschung.

Titelbild: Donatello Brogioni /Contrasto/laif; Portrait: Katarina Ivanisevic

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