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Nummer sicher

Wie geht man gut mit Risiken um? Wir wollten lieber nichts anbrennen lassen und haben uns deshalb an den renommierten Risikoforscher Gerd Gigerenzer gewandt

Nummer sicher

fluter: Sie sind Risikoforscher. Sind Sie auch ein risikofreudiger Mensch?

Gerd Gigerenzer: So würde ich das nicht nennen. Aber eines habe ich durch meine Forschung gelernt, nämlich Entscheidungen schnell zu treffen und bestimmte Risiken bewusst einzugehen. Denn nichts ist zu 100 Prozent sicher – und die Zukunft schon gar nicht.

Was würde man riskieren, wenn man immer auf Nummer sicher ginge?

Eine Menge! Die Welt, wie wir sie kennen, würde ja nicht existieren, wären Menschen nicht immer wieder Risiken eingegangen. Es gäbe heute keinen Handel und keine Innovationen. Risiken einzugehen ist ein ganz wesentlicher Motor unserer Zivilisation. Der Versuch, sich gegen alles abzusichern, würde zur völligen Lähmung führen. Es gibt sogar Beispiele, dass man sich manchmal in Gefahr bringt, wenn man jegliches Risiko vermeiden will.

Welche?

Viele Menschen haben gezögert, sich mit AstraZeneca gegen Corona impfen zu lassen, und warteten lieber ab, bis sie den Biontech-Impfstoff bekamen. Man versuchte, das sehr kleine Risiko einer schweren Hirnvenenthrombose zu vermeiden, und ging dabei unter Umständen das deutlich größere Risiko ein, sich in der Wartezeit mit Covid-19 zu infizieren und womöglich auf einer Intensivstation um sein Leben kämpfen zu müssen.

Ein bisschen Furcht ist im Leben aber schon sinnvoll, oder?

Hätten wir nicht die richtige Dosis Furcht, würden wir in jede Gefahr reinstolpern und könnten auch nicht überleben. Eines ist dabei aber ganz wichtig zu verstehen: Wir lernen die Furcht größtenteils nicht durch eigene Erfahrung, sondern sie wird uns sozial vermittelt. Wir fürchten uns also vor dem, wovor sich auch die Freunde und die Familie fürchten – und wovon die Medien und die Werbung sagen, dass wir uns fürchten sollen. Grundsätzlich ist dieses soziale Lernen vernünftig, denn man kann ja schlecht alle Gefahren selbst austesten. Nur kann das eben auch dazu führen, dass man sich vor den falschen Dingen fürchtet.

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Die Fotografen Hahn Hartung haben in den vergangenen Jahren Menschen in Deutschland besucht, die sich auf das Schlimmste vorbereiten...

Was wären Ihrer Ansicht nach solche falschen Dinge?

Welche Gefahr ist größer: in den nächsten Jahren von einem Terroristen getötet zu werden oder von einem Autofahrer, der von einem Smartphone abgelenkt ist? Nach Umfragen glauben viele, dass Terrorismus die größte Gefahr sei, gestehen aber unbefangen ein, dass sie am Steuer Nachrichten verschicken und lesen. In Deutschland kamen in den letzten zehn Jahren im Schnitt drei Personen pro Jahr durch Terroristen ums Leben, doch über 300 Personen verloren ihr Leben durch abgelenkte Fahrer, die auf ihrem Handy Nachrichten verschickten oder etwas streamten. Die Angst vor Terrorismus dient in vielen Ländern auch dazu, staatliche Überwachungssysteme einzuführen, welche die Freiheiten der Demokratie untergraben. Es gibt da große Diskrepanzen zwischen den realen Risiken und den weitverbreiteten Ängsten.

Wie kann man das ändern?

Meines Erachtens müsste schon Kindern und Jugendlichen Risikokompetenz beigebracht werden: Risiken richtig einschätzen, sie abwägen und dabei informiert und entspannt mit Unsicherheiten umgehen. Da gibt es einen großen Nachholbedarf. In der Schule lernt man heute vor allem die Mathematik der Gewissheit – Algebra und Geometrie –, aber kaum statistisches Denken. Nicht mal im Medizinstudium wird das richtig vermittelt. Untersuchungen zeigen, dass eine Großzahl der Uniabsolventen nicht in der Lage ist, Risiken richtig einzuschätzen. Dabei könnte man das schon in der Schule anhand ganz anschaulicher Probleme vermitteln.

Wie sehr kommt es neben der rationalen und mathematischen Bewältigung von Risiken auch auf „Bauchgefühl“ und Intuition an?

Das hängt ganz von der Situation ab. Bei stabilen Problemen, zu denen es verlässliche Zahlen und Variablen gibt, kommt man mit komplizierten mathematischen Modellen sehr weit. Das Risiko, im Casino beim Roulette zu verlieren, kann exakt berechnet werden. Aber je ungewisser und instabiler ein Szenario wird, etwa weil der Faktor Mensch ins Spiel kommt, desto besser funktioniert die intuitive Einschätzung. Ich vergleiche das immer mit dem Sport: Ein Baseballspieler berechnet ja auch nicht die Flugbahn des Balls, er hat einfach ein Gefühl dafür und fängt ihn. Das läuft größtenteils unbewusst ab – aus jahrelanger Erfahrung und Übung.

„Heute ist der informierte Umgang mit Risiken und Ungewissheiten genauso wichtig wie damals Lesen und Schreiben“

Trotzdem werden heute große Hoffnungen auf künstliche Intelligenz gesetzt. Wird sie uns künftig helfen, mit Risiken noch besser umzugehen?

In den USA wird in manchen Gerichtssälen mithilfe von Algorithmen vorausgesagt, ob der Angeklagte innerhalb der nächsten zwölf Monate wieder straffällig wird. Diese Vorhersagen sind jedoch nicht besonders gut. Auch hier gilt: Ist die Situation eher ungewiss und instabil, funktionieren Erfahrung und einfache Regeln oft genauso gut oder besser als die kompliziertesten Algorithmen. Obendrein sind Faustregeln keine Blackbox, sondern können transparent gemacht werden. Wir haben beispielsweise effiziente Entscheidungsbäume entwickelt, welche Ärzte bei der Aufnahme von Patienten in Kliniken anwenden. Etwa, ob ein Patient mit schweren Herzbeschwerden direkt in die Intensivstation gebracht wird oder in ein reguläres Bett mit Telemetrie kommt. Das ist eine Entscheidung auf Leben und Tod. Aber diese einfachen Regeln funktionieren erstaunlich gut. Sie fragen nur: Gibt es ein bestimmtes Merkmal im Elektrokardiogramm? Sind die Herzbeschwerden die primären Beschwerden? Und noch ein oder zwei Fragen mehr – danach wissen Sie, was zu tun ist.

Warum wollen Sie Kindern und Jugendlichen dann den Umgang mit Statistiken beibringen?

Um ihnen zu helfen, informierte Entscheidungen selbst treffen zu können. Nichts ist ohne Risiko, das Leben selbst ist ein Risiko. Statistisches Denken braucht jeder, um irreführende Berichte in Medien zu durchschauen, statt von diesen verängstigt und beeinflusst zu werden. Früher hat man gefragt, warum sollten wir allen Menschen Lesen und Schreiben beibringen? Es reicht doch, wenn einige das verstehen und den anderen sagen, was zu tun ist. Heute ist der informierte Umgang mit Risiken und Ungewissheiten genauso wichtig wie damals Lesen und Schreiben.

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... Kriege, Terroranschläge, Naturkatastrophen – für diese Fälle haben die Porträtierten vorgesorgt

Sind junge Menschen heute insgesamt mehr oder weniger risikofreudig als vergangene Generationen?

So allgemein kann ich das nicht sagen. Aber man kann sich bestimmte Indikatoren ansehen. Studien aus den USA zeigen zum Beispiel, dass kurz nach Einführung der Smartphones die ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen zurückgegangen sind. Ob das so ist, weil die jungen Frauen jetzt besser informiert sind oder weil sie weniger physischen Kontakt zu Männern haben, ist jedoch unklar. Und dann gibt es neue Risiken, die durch mangelnde Kontrolle über die neuen Technologien entstehen: Neben den am Steuer verschickten Textnachrichten ist das etwa auch die Tatsache, dass die meisten Digital Natives nie gelernt haben, versteckte Werbung von echten Nachrichten zu unterscheiden oder herauszufinden, wer hinter einer Website steht und versucht, die eigene Meinung zu manipulieren. Risikokompetenz ist also die beste Verteidigung gegen Manipulation.

Weshalb sind risikokompetente Bürger wichtig für eine Demokratie?

Aus dem gleichen Grund, aus dem die Bürger lesen, schreiben und rechnen können sollten. Risikokompetenz ist heute mehr denn je die Voraussetzung, um qualifizierte Entscheidungen zu treffen. Zumal auch viele neue Risiken entstanden sind, mit denen wir umgehen müssen, etwa das reale Risiko eines groß angelegten Missbrauchs unserer digitalen Daten. Immer mehr Menschen geben sich bedenkenlos einer kommerziellen Form der Überwachung durch die Social-Media-Plattformen hin. Sie übersehen, wie eng die Verbindung zwischen der Politik und der kommerziellen Tech-Industrie ist. Ich empfehle allen, sich mal das soziale Kredit- und Überwachungssystem anzusehen, das derzeit in China entsteht, um Menschen auf Linie zu bringen. Auch in Deutschland sammeln Datenhändler wie Acxiom alle persönlichen Daten, die sie bekommen können. Da sollten wir fragen: Möchten wir das? Deshalb: In Zeiten immer schlauerer Algorithmen brauchen wir auch schlaue, risikokompetente Menschen.

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele Angst haben, Risiken einzugehen, und damit Innovation verhindern“

Wie steht es mit der Risikokompetenz der Gesellschaft als ganzer? Viele haben jahrelang die Tatsache des Klimawandels weitgehend ausgeblendet und damit das Risiko schlimmer Konsequenzen für nachfolgende Generationen erhöht.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele Angst haben, Risiken einzugehen, und damit Innovation verhindern. Das gilt insbesondere für große Unternehmen. Das hat meines Erachtens auch mit einer negativen Fehlerkultur zu tun – es könnte ja schiefgehen, wenn man etwas Neues riskiert. Viele Manager haben Angst, Fehler zu machen und dafür bestraft zu werden. Diese Absicherungskultur verbreitet sich immer mehr in Wirtschaft, Politik und im Gesundheitswesen. Familienunternehmen haben noch eher eine positive Fehlerkultur, in der Fehler als Chancen erkannt werden, man Fehler bereitwilliger zugibt, um daraus zu lernen und zu besseren Lösungen zu kommen.

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... mit Schutzanzügen, Waffen zur Verteidigung,  Überlebenstraining oder Vorratskellern

In den vergangenen Monaten der Pandemie wurden von der Politik auch Fehler gemacht und einige Kurswechsel vorgenommen. Die Akzeptanz in der Bevölkerung dafür war teilweise gering.

Der Unmut ist angesichts der Bedrohung, die die Menschen durch Covid-19 empfinden, verständlich. Trotzdem sollte sich in einer solchen Situation jeder einmal fragen: Wie würde ich entscheiden? Man kann in Zeiten so großer Ungewissheit keine Fünfjahrespläne machen, sondern muss auch mal kurzfristig umschwenken, wenn neue Erkenntnisse vorliegen. Das ist keine Schwäche, sondern macht jetzt gutes Risikomanagement aus. Das kurze Aussetzen der Impfung mit AstraZeneca war dagegen kein Beispiel für gutes Management – die Politik versuchte wohl, die Ängste der Impfskeptiker zu beruhigen, hat aber das Vertrauen vieler anderer in den Impfstoff schwer beschädigt. Und mit Folgen für die Gesundheit: Die Impfdosen blieben liegen, und weniger Menschen wurden geimpft.

Es gibt aber auch gesellschaftliche Gefahren, die statistisch belegt sind, etwa das Armutsrisiko. Wie viel Risiko ist Ihrer Meinung nach jedem Einzelnen zuzumuten, und wie viel Mindestsicherung soll der Staat bieten?

Im Vergleich zu den USA haben wir in Deutschland eine viel stärkere Sicherung durch den Staat vor Armut, Krankheit und anderen Problemen. Und das ist auch gut so. Eine soziale Marktwirtschaft braucht aber auch mündige Bürger, die wissen, wo sie verlässliche Informationen finden, und bereit sind, selbst Verantwortung zu übernehmen. Wichtig ist dabei, dass der Einzelne auch die gesellschaftlichen Verzerrungen in Bezug auf Risiken erkennt.

Die da wären?

Zum einen die mediale Berichterstattung: Weil man in vielen Redaktionen gern „bad news“ bringt, weil das Auflage und Reichweite verspricht, wird sehr oft über Kriminalität oder Unglücke berichtet. Viele Deutsche denken deshalb, das Risiko, einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, sei gestiegen. Dabei zeigt die Statistik, dass die Kriminalität seit Jahren insgesamt zurückgeht. Zudem gibt es ganze Branchen, die Angst zu Geld machen, wie die Versicherungsbranche und auch die medizinische Industrie, die ihre Geräte verkaufen will. In den USA etwa werden jedes Jahr geschätzt eine Million Kinder unnötigen Computertomografien ausgesetzt.

Weiß man, warum manche Menschen risikofreudiger sind als andere und welche Rolle dabei Kriterien wie Alter, Geschlecht oder soziale Schicht spielen?

Junge Männer gehen öfters unnötige Risiken ein – wie Bungeespringen – als junge Frauen oder ältere Menschen. Dazu gibt es evolutionstheoretische Erklärungen, wonach junge Männer stärker um ihren Status in sozialen Hierarchien kämpfen müssen. Wenn sie schließlich eine feste Partnerschaft eingehen, beruhigt sich das meist wieder. Die Kultur spielt ebenfalls eine starke Rolle bei der Risikofreudigkeit. Meine amerikanischen Freunde werden blass, wenn sie auf einer deutschen Autobahn fahren, auf der es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt, oder einen Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen sehen. Das ist für sie ein unverantwortliches Risiko. Wenn unter einem sicheren elektrischen Weihnachtsbaum mit US-Flagge auf der Spitze aber ein Gewehr für den 16-jährigen Sohn liegt, ist das voll okay.

Wenn es ums Risiko geht, kommt meist Gerd Gigerenzer ins Spiel. Als Psychologe hat er sich am Max- Planck-Institut und an der Universität Potsdam viele Jahre lang damit beschäftigt, wie Menschen Entscheidungen treffen. Also auch damit, wie viel sie dabei wagen.

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