Angst ist eine komplexe Schöpfung des Geistes. Bis das Gefühl in uns aufkommt, haben Teile unseres Gehirns bereits Bilder, Gerüche und Geräusche wahrgenommen, interpretiert und mit Erinnerungen an Gefahren abgeglichen. Erst wenn unser Angstzentrum, die Amygdala, das „Go“ gibt, manifestiert sich die Furcht: Unser Herzschlag wird schneller, die Muskeln angespannt, die Atmung beschleunigt. Es dauert eine Fünftelsekunde, bis ein Mensch flucht- oder kampfbereit ist.
Gefahren zu bewerten – und so das Fürchten zu lernen – sei eine der mächtigsten Funktionen des Gehirns, schreibt der Neurowissenschaftler und Angstforscher Joseph LeDoux. Aber sie habe einen hohen Preis: weil Menschen sich Ängste ausmalen, Gefahren empfinden, wo keine sind, und die so geweckte Furcht nicht kontrollieren können. „Wir haben mehr Ängste, als nötig wären“, so LeDoux.
Angst ist eine politisch relevante Größe. Mit Angst wird Politik gemacht. Angst vor Jobverlust, vor Einwanderung, vor Kriminalität. Doch das Gefühl zu messen ist schwer.
Statistisch gesehen wird Deutschland immer sicherer
Eine Möglichkeit der Annäherung sind die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik, die jährlich erhoben werden. Sie zeigen, wie viele Straftaten in Deutschland im Berichtsjahr begangen wurden – und damit die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Verbrechens zu werden. Nüchtern betrachtet gibt diese Statistik seit Jahren Anlass zur Beruhigung: 2020 wurden 2,3 Prozent weniger Straftaten als im Jahr zuvor registriert. Die Kriminalität in Deutschland ist auf dem niedrigsten Stand seit 1993 – bei einer wachsenden Bevölkerung. Und die Aufklärungsquote steigt.
Allein die Gewaltkriminalität fiel in den vergangenen zehn Jahren von ca. 201.000 auf knapp 177.000 Fälle. Und wurden 2001 noch 464 Menschen ermordet, waren es im vergangenen Jahr 280. Schlimmer geworden ist 2020 allerdings die sexualisierte Gewalt gegen Kinder.
Obwohl also viele Delikte wie Gewaltkriminalität, Wohnungseinbrüche oder Diebstähle seit Jahren rückläufig sind, scheint das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung leicht abzunehmen. Das zeigen Untersuchungen, die jene Kriminalität in den Blick nehmen, die nie zur Anzeige kommt: das sogenannte Dunkelfeld. Dunkelfeldstudien befragen zufällig ausgewählte Personen danach, ob sie innerhalb eines bestimmten Zeitraums Opfer einer Straftat wurden – und versuchen damit die offizielle Kriminalitätsstatistik „aufzuhellen“. Gleichzeitig wird in diesen Befragungen das subjektive Sicherheitsempfinden untersucht: „Wie sicher fühlen Sie sich, wenn Sie tagsüber alleine in Ihrem Wohngebiet spazieren gehen?“ Mit Standardfragen wie dieser tasten die Interviewer die Ränder der Angst ab.
Herrscht in Deutschland ein Klima der Angst? Umfragen des BKA legen das nahe
Die letzte veröffentlichte bundesweite Befragung dieser Art hatte das Bundeskriminalamt (BKA) zwischen Juli 2017 und Januar 2018 durchführen lassen. Dabei zeigte sich, dass die gefühlte Unsicherheit seit der vorhergehenden Befragung fünf Jahre zuvor in fast allen Bundesländern leicht zugenommen hatte.
Am meisten Angst hatten die Menschen in Sachsen-Anhalt (30 Prozent), doch auch in Sachsen und Berlin fürchteten sich auffallend viele Menschen vor Straftaten (28 Prozent). In Ostdeutschland fühlt sich etwa jeder Vierte unsicher in seinem Wohngebiet, in Westdeutschland jeder Fünfte.
Woher die Unsicherheit rührt, dazu gibt die Untersuchung streng genommen keine Auskunft. Doch es gibt Erklärungshypothesen, wie der Studienleiter Christoph Birkel erläutert: „Der öffentliche Diskurs über den Zuzug von Flüchtlingen 2015 könnte einen Einfluss auf das Sicherheitsempfinden gehabt haben, ebenso wie die Berichterstattung über gewalttätige Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln“, sagt Dunkelfeldforscher Birkel. In der Folge habe es in den Medien einen starken Fokus auf von Migranten verübte Straftaten gegeben.
Für Zeitungen kann das Geschäft mit Angst verlockend sein – Aufregung verkauft sich besser
Der Schluss liegt nahe, dass bestimmte Medienberichte die Angst anheizen. Nicht nur, indem sie über Einzelfälle besonders intensiv berichten. Sondern auch in der Art, wie Kriminalstatistiken wiedergegeben werden. Im März titelte eine Tageszeitung: „Zahl der Verurteilungen von Ausländern steigt um 51 Prozent“. Was wie eine exklusive Enthüllung klingt, ist öffentlich in der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts nachzulesen. Und das ist nur eines von vielen Problemen mit dieser Zahl: Der Vergleichszeitraum (2010 bis 2019) ist bewusst so gewählt, dass er den dramatischsten Zuwachs zeigt.
Egal ob man die Betrachtung früher (2005) oder später (2015) beginnt, die Zahl wäre weniger spektakulär. Und bei den verzeichneten Straftaten handelt es sich nicht selten um Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, die nur Ausländer begehen können. Auch ist die Zahl der als Ausländer gezählten Menschen im Betrachtungszeitraum um mindestens 40 Prozent gestiegen. Zugespitzt gesagt: Nichts deutet darauf hin, dass Ausländer in Deutschland krimineller sind als früher. Doch für Zeitungen mit sinkender Auflage ist das Geschäft mit der Angst verlockend.
Medien können Ängste zwar schüren – aber nicht auslösen
Dennoch mahnt die Juristin Rita Haverkamp davor, den Medien eine zu große Rolle bei dem Diskurs über die Sicherheitswahrnehmung einzuräumen: „Wichtig zu sehen ist, dass Medien eine verstärkende Funktion auf Unsicherheit haben können, aber keine Auslöser sind“, erklärt die Professorin für Kriminalprävention an der Universität Tübingen. „Furchtsame Menschen füttern ihre Unsicherheit mit entsprechender Berichterstattung.“
Größere Sorgen bereiteten ihr, ebenso wie vielen Kriminalisten, die Echokammern in den Sozialen Medien, wo Menschen sich ungefiltert und ohne Faktencheck einem ständigen Zustrom von Geschichten aussetzen, die ausschließlich ihre eigenen Vorannahmen widerspiegeln. Auf YouTube und Co. ist man immer nur einen Klick vom nächsten Beitrag entfernt, der die eigenen Ängste uneingeschränkt bestätigt. Auch das Alter spiele eine wichtige Rolle, so Rita Haverkamp. Wer schlechter sehe und weniger gut zu Fuß sei, fühle sich angreifbarer. „Mich überrascht es nicht, dass in einer Gesellschaft mit dem Altersdurchschnitt von 45 Jahren auch mehr Unsicherheit herrscht.“
Im Oktober 2020 begann eine weitere Befragung durch das Bundeskriminalamt und das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) aus Bonn. „Die Ergebnisse werden uns zeigen, ob es tatsächlich einen Trend zur Unsicherheit gibt“, erklärt der Kriminalist Christoph Birkel, der auch diese Studie koordiniert. Der Gefühlsprofi vom BKA sagt, ihm persönlich gebe es Sicherheit, dass er die Aussage von Statistiken richtig erfassen könne: „Ich weiß, wie gering das Risiko tatsächlich ist, Opfer einer Straftat zu werden.“ Das lasse ihn ruhig schlafen. Richtig zitiert und verstanden, können Zahlen die Angst auch besiegen.
Illustration: Studio Pong