fluter.de: Frau Beck, Sie haben mit dem „Thüringen-Projekt“ untersucht, inwiefern eine Partei im Freistaat die Demokratie angreifen kann. Anlass waren die hohen Umfragewerte der AfD. Es ging Ihnen aber bei dem Projekt nicht um eine bestimmte Partei, sondern um grundsätzliche Muster. Was könnte also passieren, wenn eine autoritär-populistische Partei in Thüringen mindestens ein Drittel der Stimmen holt?
Hanna Katinka Beck: Zuerst einmal: Nur weil eine Partei demokratisch gewählt ist, muss sie nicht unbedingt demokratische Ziele verfolgen. Es ist potenziell immer ein Problem, wenn so eine Partei mit ihrer Sperrminorität (heißt mehr als ein Drittel der Sitze im Parlament, Anmerkung d. Redaktion) wichtige Entscheidungen verhindern kann, für die eine Zweidrittelmehrheit benötigt werden. Dazu gehören in Thüringen Verfassungsänderungen, die Auflösung des Landtags oder die Wahl der Verfassungsrichter. Indem eine Partei diese Entscheidungen verhindert, kann sie wichtige demokratische Prozesse blockieren. Dann besteht die Gefahr, dass sich die demokratischen Parteien nach einer Weile auf Deals einlassen, um die Blockade zu beenden.
In Ihrer Analyse haben Sie verschiedene Szenarien durchgespielt, wie genau Parteien die Demokratie aushöhlen können.
Wir wissen aus anderen Ländern, dass autoritär-populistische Parteien häufig zuerst die Justiz angreifen. In Thüringen könnte so eine Partei versuchen, wichtige Posten mit ihren eigenen Leuten zu besetzen und so die Rechtsprechung zu beeinflussen. Sie hätte es nicht ganz so einfach wie Orbán in Ungarn, weil die Thüringer Verfassung besser gegen autoritär-populistische Strategien gewappnet ist als die ungarische Verfassung von 1989. Aber außer Gefahr ist die Thüringer Justiz nicht.
Worin genau besteht die Gefahr?
Eine autoritär-populistische Partei könnte versuchen, die Justiz von ihrem eigenen politischen Programm abhängig zu machen. Die Gewaltenteilung außer Kraft zu setzen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass autoritär-populistische Regierungen vor allem ein Ziel verfolgen: Sie wollen Staat und Gesellschaft so umkrempeln, dass sie irgendwann nicht mehr abgewählt werden können. Das versuchen sie Schritt für Schritt und, wenn möglich, ohne mit Gesetzen oder der Verfassung zu brechen. Wenn eine Thüringer Landesregierung beispielsweise die Lehrpläne für Geschichte umschreibt oder Polizei- und Verfassungsschutzpräsidenten mit „eigenen Leuten“ besetzt, ist das legal. Der Demokratieabbau ist in so einem Fall schwer zu erkennen, weil nicht unbedingt ersichtlich ist, dass es sich um eine antidemokratische Strategie handelt.
In anderen EU-Staaten wie Ungarn oder Polen haben autoritäre Parteien vorgemacht, wie man die unabhängige Justiz oder auch die Pressefreiheit beschneidet. Wie wahrscheinlich ist es aus Ihrer Sicht, dass so etwas auch in Deutschland passiert?
Wie wahrscheinlich es wäre, dass so etwas auf Bundesebene passieren könnte, haben wir bislang nicht untersucht. Der Thüringer Ministerpräsident kann aber beispielsweise im Alleingang die Landeszentrale für politische Bildung abschaffen oder die Medienstaatsverträge mit ARD, ZDF und MDR kündigen. Ob diese Szenarien wirklich eintreten, hängt natürlich davon ab, wer in Regierungsverantwortung kommt.
Wie genau haben Sie die Zukunftsszenarien entwickelt und wie valide ist solche Forschung eigentlich?
Die Szenarien sind valide. Wir haben uns erst ausführlich mit Fällen wie Ungarn und Polen beschäftigt, dann mögliche Szenarien für Thüringen entwickelt und mit über 150 Fachleuten vor Ort abgeklopft: Kann das mit unseren Institutionen und Normen auch so passieren? Oder ist das in Thüringen anders? Wo sind für autoritär-populistische Parteien Einfallstore, mit denen sich bisher keiner beschäftigt hat? Wir haben uns also angeschaut, wie und unter welchen institutionellen Bedingungen ein solcher Demokratieabbau in Thüringen passieren könnte. Alle Szenarien sind, unabhängig vom Wahlergebnis, politisch und juristisch plausibel.
Die Thüringer Regierung hatte diskutiert, vorsorglich die Landesverfassung „wetterfest“ zu machen. Letztlich konnte sich die Koalition aber auf keine gemeinsame Linie verständigen.
In Thüringen regiert gerade eine Minderheitsregierung. Es wäre also schwer geworden, noch vor den Landtagswahlen die Verfassung zu ändern. Nichtsdestotrotz – es wäre möglich gewesen. Und mir fällt auf, dass immer noch viele Menschen in Thüringen Selbstberuhigungsthesen reproduzieren: ‚So etwas kann doch nicht in Deutschland passieren. Wir haben doch aus der Geschichte gelernt. Wir sind doch ein föderaler Staat.‘ Aber mit dieser Haltung verkennt man, was passieren könnte, wenn wir eine autoritär-populistische Regierung hätten. Was auf die zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger in Thüringen zukäme.
Sie haben sieben konkrete Vorschläge gemacht, um die Thüringer Demokratie wehrhafter zu machen. Welche Punkte wären aus Ihrer Sicht besonders dringend?
Das Allerwichtigste wäre, dass sich Politik und Gesellschaft nochmal im Detail mit allen Szenarien auseinandersetzen. Letztlich ist eine Verfassung nie zu hundert Prozent wasserdicht. Das kann sie auch nicht sein, weil sie Freiheiten und Pluralität gewährleisten soll, und und das setzt voraus, dass sich eine Mehrheit im Land zu den Grundwerten demokratischer Rechtsstaatlichkeit bekennt.
Gleichzeitig muss man aber auch aufpassen, dass man mit dem Versuch, die Verfassung vor autoritären Populisten zu schützen, nicht selbst ins Autoritäre kippt. Nur weil eine Partei genügend Stimmen hat, um Entscheidungen mit Zweidrittelmehrheit zu blockieren, sollte man nicht die erforderlichen Mehrheiten absenken. Das würde der Demokratie in diesem konkreten Fall schaden. In Thüringen werden besonders wichtige Entscheidungen wie die Auflösung des Landtags von möglichst vielen Abgeordneten getragen, so sieht es die Landesverfassung vor und das sichern Zweidrittelmehrheiten ab. Unsere Vorschläge – etwa, dass der Landtag einer Kündigung der Medienstaatsverträge zustimmen sollte – sind aber unbedenklich, sie stärken die Demokratie.
Laut dem jüngsten „Thüringen-Monitor“ sind nur mehr 45 Prozent der Thüringer mit der Umsetzung der Demokratie zufrieden – das ist der niedrigste Werte seit 2008.
Ich glaube, dass die Krisen der letzten Jahre hier eine Rolle spielen: Pandemie, Krieg, Inflation. Autoritär-populistische Parteien wie die AfD nutzen solche Krisen gezielt aus und streuen populistische Erzählungen, um das Vertrauen in die Demokratie, in die demokratischen Parteien, zu schwächen. Ich bin selbst Thüringerin und beobachte, dass viele Menschen in Thüringen, die in der DDR aufgewachsen und sozialisiert worden sind, eine andere Vorstellung davon haben, wie eine Demokratie funktionieren sollte. Nämlich schneller, mehr ergebnis- als prozessorientiert. Wie gesagt, wir hatten jetzt die letzten Jahre eine Minderheitsregierung, bei der viele Entscheidungsprozesse vielleicht besonders kompliziert waren und lange gedauert haben. Minderheitsregierungen können gut funktionieren, aber dass sich die Fraktionen in Thüringen in den vergangenen Jahren so schwer einigen konnten, hat die Zufriedenheit der Thüringerinnen und Thüringer mit der Demokratie bestimmt nicht gestärkt.
Was können junge Menschen tun, um die Demokratie zu verteidigen?
Es ist wichtig, dass sich junge Menschen informieren und lernen, politische Debatten einzuschätzen, damit sie sich auch außerhalb der eigenen Blase bewegen und autoritäre und populistische Erzählungen erkennen und bewerten können. Und jeder kann etwas gegen die Bedrohung durch autoritär-populistische Parteien tun, indem sie oder er sich mit den möglichen Szenarien beschäftigt und darüber mit anderen spricht. Wenn das Bewusstsein für die Gefahren für die Demokratie steigt, verstehen die Bürgerinnen und Bürger auch schneller, warum es nicht okay ist, dass eine Partei Grundrechte abschaffen will. Passiert so etwas tatsächlich, können sie handeln. Zum Beispiel mit Hilfe des neuen Gegenrechtsschutzes, den die Gesellschaft für Freiheitsrechte, Frag den Staat und der Verfassungsblog aufgebaut haben.
Sind diese Szenarien auch in anderen Bundesländern denkbar?
Total. Aber es gibt natürlich Unterschiede in den Verfassungen und den jeweiligen Gesetzestexten, die müssen wir uns erst einmal genau anschauen. Auf unser Thüringen-Projekt haben wir viele positive Rückmeldungen bekommen. Jetzt wollen wir das Projekt ausweiten.
Hannah Katinka Beck, 27, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Verfassungsblog. Seit September 2023 arbeitet sie beim Thüringen-Projekt.
Das Interview wurde bereits vor der Landtagswahl in Thüringen am 1. September 2024 geführt.
Fotos: Thomas Victor / Agentur Focus