fluter.de: Bei TikTok werden vor allem verrückte Tanzvideos hochgeladen, aber mittlerweile hat selbst Olaf Scholz einen Account und zeigt in einem Video, was in seiner Aktentasche ist. Seit wann ist die App politisch?
Martin Fuchs: TikTok war zunächst eine schrille Unterhaltungs-App, die aber schnell immer beliebter wurde – vor allem bei Jüngeren. Bei den 14- bis 19-Jährigen ist TikTok mittlerweile eine der reichweitenstärksten Social-Media-Plattformen, im Schnitt verbringen sie dort 95 Minuten am Tag. Zudem ist sie schon immer eine politische App gewesen, politische Inhalte waren schon immer Teil der Nutzer:innen-Kommunikation, das wurde nur lange nicht gesehen. Das hat für Politiker:innen natürlich ein großes Potenzial, weil sie dort besonders Jungwähler:innen erreichen können.
Der TikTok-Algorithmus gilt als besonders aggressiv, er passt sich sehr schnell an die Vorlieben der Nutzer:innen an. Macht das den Stimmenfang leichter?
Es reichen wenige Videos, und der Algorithmus weiß, was man interessant findet. Ab dann werden uns sehr viele ähnliche Inhalte ausgespielt, auch von Accounts, denen wir gar nicht folgen, und unabhängig davon, ob sie eine große Follower:innenschaft haben. Auch kleine, unbekannte Accounts können plötzlich viele Views und damit Aufmerksamkeit bekommen. Das ist der Unterschied zu anderen Social-Media-Plattformen: Politiker:innen können ihre Inhalte einfach in den Feed der Nutzer:innen bekommen.
„Im Oktober 2023 hatten rund 65 Prozent der AfD-Abgeordneten im Bundestag einen Account. Bei den anderen Parteien schwankte das zwischen 12 und 24 Prozent“
Wenn man also fünf Katzen-Videos schaut, bekommt man ab dann nur noch Katzen-Content ausgespielt. Und ist in der Bubble.
Genau, aber so funktioniert es auch mit weniger harmlosen Inhalten wie zum Beispiel mit Hetze gegen Migration. Und damit sogar noch schneller und besser! Denn auf TikTok zieht, was skandalisiert und Emotionen hervorruft – das ist Gold für den TikTok-Algorithmus. Er lernt schnell, was viele Menschen aufwühlt, weil sie einige Sekunden länger das Video schauen oder es sogar liken. In kürzester Zeit werden Nutzer:innen auf der For-You-Page dann nur noch ähnliche Inhalte angezeigt. Sachliche und objektive Inhalte funktionieren dagegen nicht gut.
Die AfD kommt besser als alle anderen Parteien in Deutschland mit dem Algorithmus klar: Sie ist die Partei mit der stärksten Reichweite auf TikTok.
Ich habe vor dreieinhalb Jahren begonnen, eine Sammlung von politischen Accounts bei TikTok in einer Excel-Tabelle anzulegen und auszuwerten, wie viele Likes diese Accounts haben, wie viele Views, wie viele Follower:innen. Im Oktober 2023 hatten rund 65 Prozent der AfD-Abgeordneten im Bundestag einen Account. Bei anderen Parteien im Bundestag schwankte das zwischen 12 und 24 Prozent, und sie wurden auch anders als bei den AfD-Accounts oft nicht so aktiv genutzt. Unter den zehn am meisten gelikten Politiker:innen-Accounts ingesamt bei TikTok waren fünf von AfD-Politiker:innen.
Was ist ihre Erfolgsstrategie?
Ein Grund ist erst mal banal: Die AfD hat im Gegensatz zu anderen Parteien weniger Berührungsängste mit der Plattform gehabt. Es gab keine öffentliche moralische Debatte darüber, ob eine chinesische App mit kritisierten Datenschutzrichtlinien genutzt werden darf oder nicht. Entscheidend ist aber vor allem die Wesensverwandtschaft zwischen TikTok und Populismus: Das, was die AfD in ihrer politischen Kommunikation oft macht – nämlich zuspitzen, polarisieren, andere abwerten und ganz starke Emotionen bei heiklen Themen triggern –, funktioniert bei TikTok besonders gut, weil der Algorithmus genau darauf anspringt. Fester Bestandteil der Kommunikation ist es zum Beispiel, dass grüne Politiker:innen, aber auch die Partei frontal angegriffen wird, teilweise auch sehr persönlich und unter der Gürtellinie.
Mal andersherum gefragt: Was machen andere Parteien falsch?
Bei meiner Auswertung habe ich festgestellt, dass Politiker:innen anderer Parteien zuerst auf Klamauk gesetzt haben. Sie dachten, das ist eine Unterhaltungsplattform, deshalb machen wir Tänze und Lip-Sync-Battles. Dabei sind die Inhalte hinten runtergefallen. Wenn sie sich dann doch an Sachthemen gewagt haben, dann meistens belehrend und emotionslos. Bei AfD-Accounts beobachte ich die Tendenz, Nutzer:innen zwar inhaltlich anzusprechen, aber dabei auch sehr emotional zu sein. Es werden Themen bespielt, die aufregen und Angst machen: die Inflation und steigende Preise, das Heizungsgesetz, Geflüchtete, die nach Deutschland kommen.
„Videos müssen in den ersten Sekunden reinziehen, ein aufregendes Vorschaubild haben, sich von anderen Parteien abgrenzen und Lösungsansätze nennen“
Sie sind selbst Politikberater für digitale Kommunikation. Haben Sie Tipps, wie man auch ohne populistische Inhalte auf TikTok erfolgreich sein kann?
Einfach einen Account anzumelden, weil jetzt alle zu TikTok gehen, reicht nicht. Es braucht konkrete Inhalte, um Ängste von Menschen abzufangen – und es braucht Emotionen. Ich will von demokratischen Akteuren keinen Populismus sehen, aber eine Aufladung durch positive Emotionen ist sehr wichtig – zum Beispiel ein Blick nach vorne, Optimismus, gute Ideen, etwa wie dem Klimawandel begegnet werden kann.
Und abgesehen von den Inhalten?
Eine gute Dramaturgie ist wichtig: Videos müssen in den ersten Sekunden reinziehen, ein aufregendes Vorschaubild haben, sich von anderen Parteien abgrenzen und Lösungsansätze nennen. Außerdem sind Videos mit vielen Schnitten erfolgreicher, also nicht nur eine monotone Rede, sondern auch Schnipsel aus Fraktionssitzungen, Interviews oder Nachrichtenbeiträgen. Die Gruppenvorsitzende der Linken im Bundestag, Heidi Reichinnek, macht das zum Beispiel sehr professionell. Sie hat es geschafft, eine eigene Dramaturgie zu entwickeln, indem sie am Ende jedes Videos einen Loop einbaut, sodass man es immer wieder von vorne gucken kann. Insgesamt habe ich in den letzten Wochen beobachtet, dass von Bundes- und Landtagsabgeordneten anderer Parteien oder aus den Fraktionen neue Accounts dazukamen, die so etwas bereits extrem gut umsetzen.
TikTok-Videos können zwischen 15 Sekunden und drei Minuten lang sein. Kann man in so kurzer Zeit überhaupt ein ganzes Wahlprogramm vermitteln
Es gibt gegenüber TikTok einen Kulturpessimismus, den ich nicht teile. Wahlprogramme lesen sich die meisten gar nicht durch, auch in klassischen Medien werden daraus immer nur Aspekte aufbereitet und Politiker:innen nur mit einem Satz in der „Tagesschau“ zitiert. Auf TikTok haben Politiker:innen eine bis drei Minuten, aktuell werden schon 60 Minuten getestet. Außerdem kann man mehrere Videos am Tag hochladen. Die JIM-Studie, die jährlich das Medienverhalten von Jugendlichen untersucht, hat 2023 gezeigt, dass 65 Prozent der befragten jungen Menschen am Weltgeschehen interessiert sind. 30 Prozent informieren sich über TikTtok, nur noch 15 Prozent über die gedruckte Zeitung. Junge Menschen wollen schon etwas über Politik wissen, nur die Infokanäle ändern sich eben.
Illustration: Alexander Glandien