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„Nach fünf Tagen habe ich gesagt: Ich werde rebellieren“

Im neuen Film von Milo Rau spielt Yvan Sagnet eine Doppelrolle: Jesus und sich selbst, einen Aktivisten für die Rechte von Erntehelfern. Im Interview erzählt er, wie es dazu kam

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Das Neue Evangelium

Wie sähe Jesus im Jahr 2020 aus, und für wen würde er sich einsetzen? Für den Schweizer Regisseur Milo Rau ist die Antwort klar: Er wäre Schwarz und würde gegen Ausbeutung kämpfen. In seinem Film „Das Neue Evangelium“ stellt Rau das Leben von Jesus zusammen mit afrikanischen Erntehelfern im süditalienischen Matera nach und mischt das Ganze mit Dokumentarszenen über die prekären Lebensbedingungen der Arbeiter vor Ort. Jesus spielt Yvan Sagnet, der 2011 den ersten Streik von Erntehelfern in Süditalien organisiert hat.

fluter.de: In deinem Schauspieldebüt stellst du niemand Geringeren als Jesus dar: Was ging dir durch den Kopf, als Milo Rau dir die Rolle anbot?

Yvan Sagnet: Er machte mir sofort klar, dass es sich um keinen klassischen Spielfilm handeln sollte, sondern um eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion. Es sollte um die Jesus-Figur gehen, aber auch um politische Fragen. Weil das, was ich mache, recht politisch ist und ich gleichzeitig katholischer Christ bin, schien mir das Ganze ziemlich perfekt, und ich dachte: Wow, was für eine Ehre.

Was waren für dich die größten Herausforderungen beim Dreh?

Im Dokumentarteil – zum Beispiel, als wir eine Demonstration von Erntehelfern organisiert haben – war es manchmal schwierig, sich durch die Filmkameras nicht von dem, was man gerade tat, ablenken zu lassen. Bei den Jesus-Szenen gab es außerdem Momente, die körperlich und emotional ziemlich anstrengend waren. Die Kreuzigungsszene etwa: Die haben wir in einer bergigen Landschaft gedreht. Es war sehr kalt an dem Tag, und ich war nackt, weil Jesus der Überlieferung nach ja nackt war. Ich hing also stundenlang dort oben am Kreuz in der Kälte, und irgendwann fing ich einfach an zu weinen: weil ich physisch so erschöpft war, aber auch weil mir der Gedanke an das Leid Jesu plötzlich so nah ging.

„Kritiker unseres Projekts haben tatsächlich gesagt, ein Schwarzer könne Jesus nicht verkörpern, weil Jesus weiß gewesen sei“

Es gab während der Dreharbeiten in Italien auch Kritik an dem Filmprojekt und Angriffe auf deine Person. Die rechte Zeitung „La Verità“ druckte auf ihrer Titelseite ein Foto von dir als Jesus und dazu den Kommentar: „Könnten Migranten tatsächlich übers Wasser gehen, hätten wir ein echtes Problem“. Wie bist du mit so etwas umgegangen?

Ich war schockiert, ich hatte ja nichts Schlimmes gemacht, nur in einem Film mitgespielt. Einige Kritiker unseres Projekts haben tatsächlich gesagt, ein Schwarzer könne Jesus nicht verkörpern, weil Jesus weiß gewesen sei. Für sie war der Film eine Beleidigung ihres Glaubens. Ich dachte mir, das kann doch nicht wahr sein: Jesus und seine Lehren sind universell – es gibt keinen weißen, schwarzen, europäischen oder afrikanischen Jesus. Jesus war Jesus. Ich denke, dass es die Kritik an dem Film nicht gegeben hätte, wenn Jesus von einem Italiener gespielt worden wäre und nicht von mir.

Das Neue Evangelium

Was würde Jesus im Jahr 2020 machen? Für den Regisseur Milo Rau war klar: Er wäre Schwarz und würde gegen Ausbeutung kämpfen

Dein Name ist in Italien verbunden mit einem historischen Ereignis: Du hast im Jahr 2011 den ersten Streik von Landarbeitern in Süditalien organisiert.

Ja, wobei ich eher zufällig dazu kam, auf den Tomatenfeldern im Süden zu arbeiten. Ich war eigentlich zum Studieren aus Kamerun nach Turin gezogen. Aber weil ich Geld brauchte, um das Studium zu finanzieren, wollte ich 2011 als Erntehelfer in Apulien arbeiten. Ich dachte, das würde ein ganz normaler Job, aber was ich vorfand, war ein System der Ausbeutung, in dem die sogenannten Caporali – die Vermittler zwischen den Bauern und den Erntehelfern – die Arbeiter ausnutzten. Ich entdeckte sozusagen die dunkle Seite Italiens.

Wie sahen die Arbeitsbedingungen denn genau aus?

Es gab eine Art Ghetto für die Arbeiter, von denen sehr viele Migranten waren. Sie wohnten in Plastikbaracken ohne Strom und fließendes Wasser, matschig und voller Müll, ein wirklich unwürdiger Ort. In meinem Heimatland Kamerun hatte ich so etwas noch nie gesehen. Die Arbeit selbst sah so aus, dass die Caporali uns Arbeiter in völlig überfüllten Kleinbussen zu den Feldern fuhren. Für diesen Transport mussten wir fünf Euro bezahlen, außerdem noch fünf Euro für die Verpflegung. Anschließend pflückten wir bei ungefähr 40 Grad Hitze Tomaten. Für eine Kiste, in die 300 Kilo passten, gab es 3,50 Euro. Am Ende des ersten Tages hatte ich drei Kisten gepflückt und insgesamt vier Euro verdient. Auch für die, die geübter waren als ich, war es sehr schwierig. Der Caporale setzte einen unter Druck, möglichst schnell zu pflücken. Und wer sich krank fühlte und aus dem Niemandsland der Tomatenfelder ins Krankenhaus wollte, musste ihm erst 50 Euro für die Fahrt bezahlen. Nach fünf Tagen dort habe ich gesagt: „Das reicht mir jetzt, ich werde rebellieren.“

„Für 300 Kilo Tomatenernte gab es 3,50 Euro. Am Ende des ersten Tages hatte ich insgesamt vier Euro verdient“

Warum denkst du, ist vor dir noch niemand diesen Schritt gegangen?

Unter diesen Bedingungen zu streiken ist keine Selbstverständlichkeit. Die Caporali sind gewalttätig, und auch die Mafia hat in dieser Region großen Einfluss und kann versuchen, dich einzuschüchtern. Und abgesehen davon gab es bei meinen Kollegen auch die Angst, nicht mehr arbeiten zu können. In Italien ist es für Migranten nicht einfach, einen Job zu finden, insbesondere für die, die keine Aufenthaltspapiere haben. Viele hatten also einfach keine Wahl und akzeptierten deshalb diese Zustände. Ich hatte Papiere, ich studierte in Italien, wusste, was Gewerkschaften waren, und hatte das Glück, mutig genug zu sein, die anderen zum Mitmachen zu überreden.

Das Neue Evangelium

Das letzte Abendmahl ist in „Das Neue Evangelium“ diverser besetzt, als es die meisten Gemälde zeigen

Wie ging es danach weiter?

Wir haben viel Unterstützung bekommen: von den Gewerkschaften, der Presse, von Teilen der Zivilbevölkerung, aber auch von den politischen Institutionen. Es wurde schließlich das erste Gesetz gegen das System der Caporali beschlossen, und einige Caporali und Bauern sind auch schon festgenommen und angeklagt worden. Die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen der meisten Arbeiter haben sich aber leider nicht besonders verbessert. Es bräuchte bessere Wohngelegenheiten für die Saisonarbeiter, es müsste überall der Mindestlohn bezahlt und die vorgeschriebenen Arbeitszeiten eingehalten werden, und es bräuchte vor allem viel mehr Kontrollen.

Du hast eben erwähnt, dass du selbst Katholik bist, so wie viele der Menschen, die kritisiert haben, dass ein Schwarzer Jesus verkörpert oder dass Migranten überhaupt zum Arbeiten nach Italien kommen. Hast du dich je gefragt, warum diese Menschen dieselbe Religion wie du haben, sie aber offensichtlich anders interpretieren?

Das ist meiner Meinung nach ein großes Problem des Westens: Die Religion ist häufig nur noch ein Dogma, etwas Kulturelles, sie wird nicht praktiziert. Jesus hat gesagt, Religion bedeute, gute Taten zu vollbringen. Sie bedeutet also nicht nur, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Du sollst deinen Nächsten aufnehmen, ihm helfen. Und das heißt eben auch, Migranten, die in Not sind, zu helfen.

„Das Neue Evangelium“ ist coronabedingt ab dem 17. Dezember erst einmal nur digital abrufbar. 30 Prozent des Preises eines „digitalen Kinotickets“ werden dabei an ein Kino weitergegeben, das die Zuschauer*innen beim Kauf auswählen können.

Fotos: Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Armin Smailovic

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.