Die eine ist gebürtig aus Lohne, einer kleinen Stadt in Niedersachsen mit gut 28.000 Einwohnern und dem Slogan „Lohne lohnt sich“. 2014, da ist sie Mitte 20, verlässt sie Deutschland. Eine andere wird in schwierige Verhältnisse hineingeboren. Der Vater schlägt sie, als Jugendliche landet sie auf dem Strich, geht für Zuhälter der Motorradgang Hells Angels anschaffen. Auch sie verschwindet 2014 aus Deutschland. Die Nächste wächst in Hamburg auf, beginnt eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin, arbeitet später in einem Reisebüro. Sie tritt 2015 die Reise an, zu der alle Frauen aufgebrochen sind, von denen dieser Text erzählt.
Die drei sind wie Zehntausende andere Männer und Frauen aus aller Welt nach Syrien gereist, um in dem „Kalifat“ – also einer Art religiösem Reich – zu leben, das der sogenannte Islamische Staat (IS) dort 2014 ausgerufen hat. Nun sind sie wieder in Deutschland, denn der „Terrorstaat“ liegt in Trümmern. Im Juli 2017 fiel die IS-Hauptstadt Mossul, im Frühjahr 2019 konnte die Anti-IS-Koalition auch das letzte besetzte Gebiet in Syrien befreien.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählte bis März dieses Jahres mehr als 1.060 Männer und Frauen, die nach Syrien und in den Irak ausgereist sind. Ihre Biografien unterscheiden sich, einige sind konvertiert, andere in einer muslimischen Familie aufgewachsen, sie kommen aus Städten und vom Land, haben große Freundeskreise oder sind eher Außenseiter, und mitnichten sind alle „Bildungsverlierer“. „Es gibt gebildete Radikalisierte und ungebildete Radikalisierte“, fasst Marwan Abou-Taam vom Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz zusammen. Sie verbindet nur, dass sie sich radikalisiert haben.
Gut ein Viertel – größtenteils Männer – ist schon nach wenigen Monaten wieder aus dem „Kalifat“ zurückgekehrt. Für Frauen war dies hingegen kaum möglich: Die strengen Sitten des IS verbieten ihnen, allein zu reisen, ihr Platz im „Kalifat“ ist im Haushalt. Die meisten Frauen kamen darum erst zurück, als der „Terrorstaat“ schon bröckelte. Je mehr IS-Anhängerinnen nun zurückkehren, desto mehr stehen diese zwei Fragen im Raum: Warum haben sie sich dem IS angeschlossen, und welche Verbrechen haben sie begangen?
„Wir müssen die Frauen als Akteurinnen sehen und nicht nur als passive Naivchen, die auf jemanden reingefallen sind“
Um die zweite Frage kümmern sich vor allem die Sicherheitsbehörden und die Justiz. Die Bundesanwaltschaft hat inzwischen gegen mehrere IS-Rückkehrerinnen Verfahren eröffnet. Ihnen werden verschiedene Verbrechen vorgeworfen: die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, gegen das Völkerrecht oder die Fürsorgepflicht für die eigenen Kinder, Mord, Kriegsverbrechen, Sklaverei. Vielen IS-Männern sind Verbrechen leichter nachzuweisen. Sie posierten in Propagandavideos, wurden vom „Terrorstaat“ bezahlt. Bei den Frauen ist das schwieriger. Sie waren im „Kalifat“ offiziell nur Hausfrauen und Mütter. Mit der Frage, ob sie dadurch auch die Terrororganisation Islamischer Staat unterstützt haben, beschäftigen sich gerade mehrere Gerichtsverfahren. In München läuft ein Prozess gegen eine 2014 ausgereiste Frau, unter anderem wird ihr Mord vorgeworfen. In der Anklageschrift heißt es, sie sei nicht eingeschritten, als ihr Ehemann ein fünfjähriges Mädchen im Garten ankettete und in der Hitze sterben ließ. Auch mehreren anderen der in Deutschland angeklagten Frauen wird Sklaverei vorgeworfen.
„Wir müssen die Frauen als Akteurinnen sehen und nicht nur als passive Naivchen, die auf jemanden reingefallen sind und verführt wurden“, sagt Claudia Dantschke, Islamismusexpertin und Gründerin von „Hayat“, einer Beratungsstelle für die Angehörigen von Jugendlichen, die sich islamistisch radikalisiert haben.
Etwa 500 Familien haben sich seit der Gründung bei Hayat gemeldet, von besorgten Eltern, deren Sohn auf YouTube radikalen Predigern lauscht, bis zum Vater, dessen Tochter über Nacht verschwunden war. Dazwischen seien auch Fälle gewesen, in denen Mädchen unfreiwillig im „Kalifat“ gelandet sind. „Aber das sind die Ausnahmefälle. Man kann schon generell sagen, dass sich auch die Mädchen, die mit 15 oder 16 weg sind, aktiv dafür entschieden haben.“
Bei jedem neuen Fall versuchen Dantschke und ihr Team zu ergründen, wie es zu der Radikalisierung gekommen ist. „Wir haben festgestellt: Auf der Suche nach dem Islam ist eigentlich keiner“, sagt Dantschke. Jedoch fehlt den meisten etwas: Anerkennung, Aufmerksamkeit, Orientierung, ein Abenteuer. Die Anwerbestrukturen der islamistischen Szene sind darauf ausgerichtet, diese Bedürfnisse zu erfüllen. „Salafistisches Streetworking“ nennt Dantschke das.
„Generation Pop-Dschihad“: kurze Videos, Kalendersprüche, Instagram-Kacheln
Chatgruppen und Onlineforen spielen inzwischen eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung, beobachtet Sofia Koller, Projektleiterin eines Workshops, in dem sich Experten aus Behörden, der Wissenschaft und Praktiker aus der Sozialarbeit austauschen. „In den vergangenen fünf Jahren hat sich das extrem verändert. Es gibt viel mehr Leute, die online sind, und es gibt auch mehr Content von extremistischen Gruppen.“ Auch die Art der Propaganda habe sich verändert, so Koller: „Sie ist insgesamt quantitativ weniger und auch qualitativ weniger hochwertig.“ Alte Inhalte werden wiederverwendet, und statt der professionellen Bilder aus dem IS-Apparat werden die Beiträge von einzelnen Anhängern wichtiger. Das liege auch an der stärkeren Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden, sagt Koller.
Das „Kalifat“ macht dezentral, möglichst im Netz weiter – und findet dort Anhängerinnen. „Die meisten, die sich jetzt noch neu radikalisieren, sind Mädchen“, sagt Claudia Dantschke. „Wir haben insgesamt weniger neue Fälle als noch vor ein paar Jahren. Aber eben wesentlich mehr Mädchen als Jungen.“ Warum das so ist, wissen auch die Experten von „Hayat“ noch nicht.
Für Frauen ist es häufig eine neue Freundin, die in einem Chat Fragen beantwortet, bei Kummer tröstet. Bei den Anwerbungen spielen Frauen eine wichtige Rolle, denn durch die strenge Geschlechtertrennung dürfen Männer fremde Frauen nicht ansprechen. Die Ratschläge laufen auf dasselbe Ziel hinaus: Sei eine gute Muslima. Du bist überlegen, wenn du die wahre Religion lebst.
Diese „wahre Religion“ ist in dem Fall der Salafismus, eine besonders konservative Strömung im Islam, deren Anhänger glauben, der Koran sei wortwörtlich zu nehmen und ein Leben wie in der Anfangszeit des Islam erstrebenswert. Viele ihrer Ansichten kollidieren mit freiheitlich-demokratischen Werten, und die meisten Deutschen, die für den IS kämpften oder Anschläge verübt haben, hatten mit dieser Szene zu tun. Der „Verfassungsschutzbericht 2018“ rechnet dem salafistischen Milieu 11.300 Mitglieder zu, 500 mehr als im Vorjahr. Der Salafismus mit seinen rückwärtsgewandten Ideen und Idealen hatte in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland erstaunlichen Erfolg.
„Ist hier jemand, der heute zu den Glücklichen gehören will? Der den Islam annehmen will?“
Ab 2004 erschienen mehr und mehr Videos salafistischer Prediger bei YouTube auf Deutsch – eine Neuerung. Stundenlang sind die Vorträge zum Teil, aber sie vermitteln in einfach verständlicher Sprache die salafistische Sicht auf die Welt. „Wer sich damals radikalisiert hat, ist noch in die Tiefe gegangen. Das waren längere Prozesse, die ein bis zwei Jahre gedauert haben“, sagt Dantschke. Der Konvertit Pierre Vogel wird zu einem vermeintlichen Star der Szene, tourt mit seinen Vorträgen durchs Land. Im Frühjahr 2011 ruft er zu einer Kundgebung in Frankfurt am Main auf. Etwa 1.500 Menschen kommen. Kurz vor dem Ende fragt Vogel ins Publikum: „Ist hier jemand, der heute zu den Glücklichen gehören will? Der den Islam annehmen will?“ Ein junger Mann meldet sich, die Menge jubelt. Ihm folgen weitere. Am Ende sprechen 17 Jugendliche auf der Bühne das islamische Glaubensbekenntnis, um zu konvertieren.
In dieser Zeit werden Teile der Szene immer radikaler. Als Mitglieder der rechtsextremen Kleinpartei Pro NRW Karikaturen des Propheten Mohammed zeigen, ruft die Organisation Millatu Ibrahim aus Solingen zur Gewalt auf. Die Gruppe wird bald darauf verboten – viele ihrer Mitglieder reisen später Richtung IS aus.
Einer aus der Millatu-Ibrahim-Gruppe war Denis Cuspert, der sich vor seiner „Islamistenkarriere“ als Rapper Deso Dogg versucht hatte. Die Popstarpose behält er bei, sie kommt gut an bei der „Generation Pop-Dschihad“, wie Claudia Dantschke die neue Strömung in der Radikalisierung nennt, die der „IS“ mitprägte. Kurze Internetvideos vermitteln einfache Botschaften, die theologische Basis spielt eine untergeordnete Rolle. Islamistische Kalendersprüche, extremistische Gedanken auf Instagram-Kacheln. Das ermöglicht Radikalisierungen im Turbotempo, auch wenn die Ideologie dann nicht so fest sitzt.
Im „Terrorstaat“ finden der Ex-Rapper Denis Cuspert und Omaima zueinander, eine der Frauen, die nun in Deutschland vor Gericht stehen. Die Hamburgerin war 2015, da war ihr jüngstes Kind gerade zwei Monate auf der Welt, ihrem vorherigen Ehemann ins „Kalifat“ gefolgt. Sechs Wochen nach ihrer Ankunft ist dieser tot. Bald darauf heiratet sie seinen Vertrauten Cuspert, der zu den bekanntesten deutschen IS-Islamisten zählt. Auch er wird das „Kalifat“ nicht überleben. Omaima macht viele Bilder mit ihrem Smartphone von ihrem Leben im „Kalifat“. Das Telefon wird Jahre später der Journalistin Jenan Moussa zugespielt, die Omaima 2019 in Hamburg aufspürt.
Die Bilder von Omaimas Smartphone zeigen eine Frau, die oft lacht, die draußen Vollverschleierung trägt und auf einem Foto ein Gewehr über der Schulter. Und ihre Kinder, die IS-Flaggen hochhalten. Was hat die Hamburgerin in Syrien gesucht? Zum Prozessauftakt im Mai vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht stellt sie ihr Leben in Syrien als das einer Hausfrau und Mutter dar. Wie sehr sie die Strukturen des „Islamischen Staats“ unterstützt hat, muss das Verfahren zeigen.
Titelbild: Andy Spyra/laif