fluter.de: Vergangenes Jahr hat Italien eine populistische Regierung aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega Nord gewählt. Woher kommt dieser Wille der Italiener zu politischen Umbrüchen?
Roman Maruhn: Die Italiener selbst sind extremen Umbrüchen ausgesetzt: Diese Parteien reklamieren für sich, die Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten, auch wenn das inzwischen weniger die klassischen Arbeiter als zum Beispiel Angestellte aus dem schlecht bezahlten Dienstleistungssektor sind. Die ohnehin rasante Veränderung ganzer Wirtschaftszweige wurde durch die Wirtschaftskrise nach 2008 massiv verstärkt und stieß auf einen weniger ausgebauten Sozialstaat als in Deutschland. Da hat die Fünf-Sterne-Bewegung den Wählern einfach ein sehr gutes Angebot gemacht: ein Bürgergeld, vergleichbar mit Hartz IV. Das kommt an. Nun wird diskutiert, ob nur Italiener oder auch Ausländer einen Anspruch darauf haben.
Haben die Rechtspopulisten der Lega Nord, der kleinere Koalitionspartner, quasi die Regierung und ihre Themen gekapert?
Die Fünf-Sterne-Bewegung hat auf jeden Fall ein Manko an inhaltlicher Festlegung in vielen Punkten, was auch daran liegt, dass sie alles im Konsens entscheiden wollen. Und innerhalb der Bewegung gibt es Widerstände gegen die Koalition. Dort sind viele junge Aktivisten engagiert, die von einem neuen, besseren, ökologischeren und gerechteren Staat träumen. Aber sie haben keine klaren Parteihierarchien, da kann ein Salvini bei der Lega Nord viel klarer durchregieren.
„Es gibt offensichtlich dieses Bedürfnis, dass jemand auf den Tisch haut. Das soll einem Volk, das sich in der Krise gedemütigt fühlt, auf einfachem Wege Selbstbewusstsein geben“
Wie reagiert die Bevölkerung auf dieses „Durchregieren“ der Lega Nord?
Bei den Italienern kommt das gut an, wenn man den Umfragen glauben darf. Wären nun Wahlen, würden die Lega und Salvini die Regierung anführen. Er ist einfach extrem präsent, hat eine aggressive Rhetorik, ist raffiniert im Umgang mit Social Media und dominiert den öffentlichen Diskurs. Dabei wird sogar gegen Salvini ermittelt – durch die Staatsanwaltschaft in Catania – wegen Freiheitsberaubung, weil er angeordnet hat, dass Rettungsschiffe nicht mehr in italienischen Häfen anlegen dürfen. Seinem öffentlichen Bild schadet das nicht – im Gegenteil. Bei den Migrationsthemen gibt es kaum Widerspruch, und Kritik gegen die Europäische Union zieht auch immer. Es gibt offensichtlich dieses Bedürfnis, dass jemand auf den Tisch haut. Das soll einem Volk, das sich in der Krise gedemütigt fühlt, auf einfachem Wege Selbstbewusstsein geben.
Wofür stehen die beiden Parteien, die gerade Italien regieren?
Mit der Wirtschaftskrise 2008 begann der Aufstieg der Fünf-Sterne-Bewegung, die seit ihrem Wahlsieg im März den Seniorpartner in der Koalition stellt. Es ist ein erklärtes Ziel der Bewegung, nicht mit den etablierten Parteien zu koalieren – deshalb nun der Koalitionspartner von rechts außen. Die als populistisch geltende Bewegung strebt ein anderes politisches System an. Sie kann mit dem in der italienischen Verfassung verankerten System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie relativ wenig anfangen. Sie will eine Art direkte Demokratie über das Internet. In dieser e-democracy treffen die Bürger selbst alle wichtigen politischen Entscheidungen. Das war ihr Ursprungsgedanke.
Die Außenwirkung bestimmt häufig der Koalitionspartner, die Lega Nord. Sie war eine separatistische Partei, die die Abspaltung von einigen norditalienischen Regionen wollte. Sie stellt den Innenminister Matteo Salvini, sieht sich vor allem als Interessenvertreter des norditalienischen Kleinbürgertums und ist durch nationalistische und rassistische Aussagen ihrer Vertreter in der Debatte. Sie arbeitet auch programmatisch seit Jahrzehnten mit Ausländerfeindlichkeit und schürt bewusst die Angst vor einer fortschreitenden Islamisierung und „Afrikanisierung“ Italiens.
Hat das Auswirkungen im Alltag?
Es legitimiert offen ausgelebte Fremdenfeindlichkeit. Latent war eine solche Haltung immer da, wie auch in anderen europäischen Ländern. Salvini pflegt nicht nur eine sehr gewalttätige Sprache, er lässt sich auch mal mit einer Schusswaffe ablichten. Rassistische Übergriffe nehmen zu. Menschen, die diese begehen oder sich zumindest ausgrenzend verhalten, fühlen sich von der Regierung nicht nur gedeckt, sondern massiv ermutigt, das „Recht selbst in die Hand“ zu nehmen. Und da wird es dann wirklich gefährlich. Auch diese Regierung muss das staatliche Gewaltmonopol verteidigen und extreme politische Strömungen mäßigen. Das geschieht aber bisher nicht.
Gibt es eine Zivilgesellschaft, die dagegenhält?
Die Zivilgesellschaft in Italien ist traditionell gut organisiert, aber eher auf lokaler Ebene. Auch die Bürgermeister und Kommunen haben in Italien eine größere Bedeutung als vielleicht in Deutschland. Und da gibt es schon Widerstand. Bei Salvinis Anordnungen mit dem Anlegeverbot für Seenotretter hat zum Beispiel der Bürgermeister von Palermo gesagt, dass der Hafen dort offen bleibt. Hilfsorganisationen – viele mit christlichem Hintergrund – halten auch gegen die ansteigende Fremdenfeindlichkeit. Die Zivilgesellschaft kann das politische Wirrwarr aber nicht auffangen.
Gibt es jemanden, der kurzfristig politisch etwas gegen den Rechtsruck tun möchte?
Die traditionellen Parteien – oder das, was von ihnen übrig ist – befinden sich in der Selbstfindungskrise. Aber den Präsidenten der Republik darf man in Italien nicht vergessen: Er ist der Hüter der Verfassung und in einer sehr viel stärkeren Rolle als etwa der deutsche Bundespräsident. Er kann auf vieles einwirken. Es gibt noch keinen richtig offenen Konflikt, auch wenn es innerhalb der Regierung heftig knirscht, und mit Europa natürlich erst recht.
Italiens Staatshaushalt sah für 2019 eine hohe Neuverschuldung vor. Sie sollte dreimal so hoch ausfallen wie von der Vorgängerregierung mit Brüssel vereinbart. Die Euopäische Kommission hat darauf mit einer sehr harten Haltung reagiert. Nun ist der Streit beigelegt. Was halten Sie von dem Kompromiss?
Die Neuschulden werden jetzt wesentlich geringer ausfallen. Das ist ein Kompromiss, der die Regierung in Rom „einfängt“. Damit hat das europakritische Regierungsbündnis eine klare Niederlage kassiert. Zu Beginn hatte die Regierung verlautbart, sich keine Vorschriften aus Brüssel machen zu lassen. Die Kommission hat den Haushaltsentwurf zum Wohl Italiens und der Italiener kritisiert und Änderungen angemahnt. Bis jetzt kostet die Auseinandersetzung mit Brüssel die italienischen Steuerzahler schon um die 1,7 Milliarden Euro. Das sind die Mehrkosten für die aus politischen Gründen gestiegenen Zinsen für italienische Staatsanleihen. In Zeiten von Unsicherheit steigen die Zinssätze. Der Regierung in Rom gibt das eine Vorahnung davon, wieviel finanzieller Schaden angerichtet werden kann, wenn europäische Vereinbarungen nicht eingehalten werden. Mit dieser Regierung werden sicher neue europapolitische Konflikte entstehen. Aber vorerst herrscht Waffenstillstand.
Titelbild: Maurix/GAMMA-RAPHO/GAMMA-RAPHO/laif