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12 Points for Kadima!

Den Eurovision Song Contest kennt jeder, aber schon mal was von der Jewrovision gehört? Unsere Autorin hat Jugendliche bei der Vorbereitung zu Europas größtem jüdischen Musikwettbewerb besucht

Jewrovision

Es ist Donnerstagnachmittag und der Reisebus des jüdischen Jugendzentrums Kadima bebt: Jugendliche klatschen in die Hände, klopfen auf ihre Sitze, schlagen gegen die Decke. Und weil jede Jugendgruppe einen Anfeuerungsruf braucht, rufen sie: „DYNAMIT, KADIMADYNAMIT, KADIMA TICK TICK TICK TICK TICK BOOM DYNAMIT.“ Im Instagram-Video, das das jüdische Jugendzentrum Düsseldorf an diesem Tag Ende Mai von seiner Reise postet, sieht man rund 30 Kinder und Jugendliche in bester Stimmung. Ihr Ziel: Berlin. Genauer: die Jewrovision, Europas größter jüdischer Musik- und Tanzwettbewerb.

Seit 2013 richtet der Zentralrat der Juden in Deutschland – angelehnt an den Eurovision Song Contest – die Jewrovision aus. Jüdische Jugendzentren und Verbände, zwölf sind es 2022, treten gegeneinander an, mit Coversongs, aber eigener Choreografie und neuem Liedtext. Jede Gruppe reicht zudem ein Vorstellungsvideo ein. Beides wird von einer Jury bewertet. Teilnehmen dürfen in diesem Jahr Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 20 Jahren. Für viele ist es das Highlight des Jahres.

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Jewrovision
Wenige Tage vor der großen Jewrovision-Show: die letzten Proben von Kadima in Düsseldorf

Sonntag, kurz nach elf, wenige Tage vor der großen Show in Berlin. „Kadima“, Hebräisch für „vorwärts“, steht in großen schwarzen Lettern, mit Glitzer besprenkelt, über einer Tür im dritten Stock der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf. Die Gemeinde ist mit 7.000 Mitgliedern und eigener Synagoge eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands – nur Berlin und München sind größer. Heute hat die Kadima-Jewrovision-Gruppe ihre Generalprobe. Im Erdgeschoss, in einer großen Halle mit Holzboden und orangefarbenen Vorhängen, sammeln sich Kinder und Jugendliche, die meisten in Jogginghosen und Sportschuhen. Einige albern herum, andere sitzen verschlafen am Rand. „Heute geht’s richtig ab, ich will Motivation sehen!“, ruft Marina.

Die 19-Jährige mit den langen braunen Haaren ist dieses Jahr nicht nur Jewrovision-Teilnehmerin, sondern auch „Madricha“, Betreuerin der Jugendlichen. Während Techno durch die Halle dröhnt und im Minutentakt mehr Jugendliche eintrudeln, macht Marina Hampelmänner vor, joggt auf der Stelle. Die anderen machen es nach, mal mehr, mal weniger motiviert. Gegen halb zwölf fehlen immer noch mindestens zehn Teilnehmende. Aber Alexander Coda, der Choreograf, will anfangen. Schwerpunkte heute: Fokus finden, Schritte wiederholen, Abläufe verinnerlichen. Noch gibt es Fragen: Springe ich nach links oder rechts? Bleibt mein Arm unten, oder geht er nach oben? „Stell dir vor, es schauen 3.000 Leute zu“, sagt Alexander Coda zu einem Mädchen, das eben aus der Reihe getanzt ist, „und dann sitzt ein Schritt nicht, das fällt sofort auf.“

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Sitzkreis, bitte: Marina und Igor schwören die Jugendlichen auf ihren Auftritt ein

Auch wenn immer noch Einsätze danebengehen: An Bühnenpräsenz mangelt es Marina nicht. Zur Akustikversion von „We got love“ von Sigala und Ella Henderson singt sie den von Kadima umgedichteten Text: „Hab keine Angst davor, anders zu sein, denn du bist jüdisch und nicht allein.“ Die Tänzer:innen hinter ihr bewegen ihre Arme langsam, fast roboterartig, dann wechselt der Beat, die Gruppe verfällt in Hip-Hop-Moves, und ein Junge und zwei Mädchen singen Zeilen, die nachhallen: „Wir stehen für uns ein, und wir haben keine Angst, kämpf für deine Rechte, solange du es kannst“.

Wie viele Juden in Deutschland leben, kann nur geschätzt werden. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, ging 2021 von etwa 150.000 aus. Knapp 92.000 davon sind in einer der 104 lokalen Gemeinden unter dem Dach des Zentralrats organisiert. Jugendzentren sind oft ein wichtiger Teil der Gemeinde. „Es soll ein Ort sein, an den man sich zurückziehen kann und an dem sich keiner anders fühlen muss“, erklärt Igor. Er ist 21 und einer der Jugendzentrumsleiter von Kadima. Ein Safe Space für jüdische Kinder und Jugendliche also, in dem sie nicht komisch angeguckt werden, weil sie einen Davidstern, eine Kippa oder ein Shirt mit hebräischen Schriftzügen tragen. Bei der Jewrovision wird dieser Gedanke besonders zelebriert: Alle Teilnehmenden und Beteiligten sind jüdisch.

Fragt man Marina, welche Bedeutung die Veranstaltung für sie hat, überlegt  sie nicht lange. „Es bedeutet alles für mich.“ Es ist ihre fünfte Jewrovision, die erste als Sängerin. Es passiere ihr immer wieder, dass Menschen überrascht reagierten, wenn sie hörten, dass sie Jüdin sei. Manche würden gar nicht wissen, dass noch jüdische Menschen in Deutschland leben. „Das trifft einen schon manchmal“, gibt Marina zu. Sie kenne viele, die sich in Deutschland alleine fühlten, sich nicht trauten zu sagen, dass sie jüdisch sind. „Deswegen ist es so wichtig, dass man sich mit anderen Juden in Deutschland austauscht und zeigt, dass es uns noch gibt.“ Alle hätten die Jewrovision, die in den vergangenen beiden Jahren wegen Corona ausfallen musste, vermisst, sagt Max. Der 17-Jährige ist seit vier Jahren Tänzer im Kadima-Team. Er schwärmt von dem einzigartigen Netzwerk, das die Jewrovision schaffe. So sei man – egal wo in Deutschland – nicht alleine, habe Freunde in jeder Stadt. Max ist es wichtig, dieses Netzwerk aufrechtzuerhalten. Bei der Jewrovision feiern die Jugendlichen nicht nur das jüdische Leben, sie setzen sich aktiv mit jüdischen Werten, Traditionen und ihrer Herkunft auseinander. Manche feiern gar das erste Mal Schabbat. Auch er habe erst durch das Jugendzentrum zum Glauben gefunden, erzählt Max. Heute sei die Synagoge für ihn ein Rückzugsort, vor allem wenn es ihm mal schlecht gehe.

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Choreograf Alexander Coda (links) sorgt dafür, dass niemand aus der Reihe tanzt

Als sich die Kadima-Gruppe nach der Mittagspause zum ersten Mal gemeinsam das fertige Vorstellungsvideo anschaut, sitzen und stehen alle eng gedrängt um den kleinen Laptop. Kurz sieht man die Düsseldorfer Synagoge, dann vier der Kadima-Jugendlichen, darunter auch Max, in knalligen Anzügen. Sie singen von Zusammenhalt und Traditionen, tragen Kippa, Davidstern und Gebetsmantel. Am Ende tanzen und springen sie ausgelassen, bunte Luftschlangen fliegen durchs Bild. Als der Bildschirm schwarz wird, klatschen und johlen die Jugendlichen. Igor sitzt im Schneidersitz auf dem Holzboden und schwört sie noch einmal ein. Es hat etwas von einem pep talk kurz vor einem Fußballendspiel. „Vergesst nicht, dass wir ein Team sind, vergesst nicht, dass wir die Jewrovision rocken werden!“ Er streckt seine Hand in die Mitte, die anderen tun es ihm gleich. „Auf drei: eins, zwei, drei: TEAM!“

Freitagnachmittag, in ein paar Minuten geht die Show los. Auf YouTube und bei Facebook läuft sie im Livestream. Der Veranstaltungsort, die Kongresshalle im Estrel-Hotel in Berlin-Neukölln, ist in rotes Licht getaucht, man sieht vereinzelte Fahnen und bunte Knicklichter. „The Show Must Go On“, singen zwei junge Frauen, beide in glitzernden Minikleidern. Nach zwei Jahren Zwangspause passt der Queen-Song perfekt für den Eröffnungsact der Jewrovision, die dieses Jahr das gleichnamige Motto hat: „The Show Must Go On“.

Während es an vielen Stellen der Show um die Einsamkeit geht, die Corona den Jugendlichen gebracht hat, spielen auch aktuelle politische Debatten und Krisen eine Rolle. Die Klimakrise etwa, der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus, Krieg, Terror. „Deutschland, es reicht. Jewish life in Germany nur mit Polizei“, singen die Jugendlichen aus Frankfurt, „Corona-Leugner (…) haben unseren Stern genutzt und unser Volk beschmutzt“ die Teilnehmenden aus Bochum. Nicht jeder Schritt sitzt, nicht jeder Ton wird getroffen. Auch bei Kadima, die als Fünfte dran sind, läuft es nicht perfekt. Aber darum geht es hier auch nicht: Die Jewrovision ist dafür da, sich gegenseitig zu feiern. Und genau das passiert: „DYNAMIT, KADIMADYNAMIT“, schallt es nach dem Auftritt der Düsseldorfer:innen durch die Halle.

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„Eins, zwei, drei: TEAM!“: Bei der Jewrovision geht es darum, sich gegenseitig zu feiern

Nach mehr als drei Stunden Show werden vor rund 3.000 Gästen die Sieger:innen verkündet. Kadima kommt bei der Hauptpreisverleihung nur auf den vierten Platz, gewinnt dafür aber den Videopreis. Den Sieg holt sich das Jugendzentrum Amichai aus Frankfurt, knapp vor Olam aus Berlin. „Ich gönne es Frankfurt und Berlin total, die waren meine Favoriten“, sagt Marina später in einer Sprachnachricht, die Stimme heiser vom Singen und Schreien. Auf der Rückfahrt nach Düsseldorf am Sonntag feiert Kadima weiter. „Alle in diesem Bus sind durchgedreht“, sagt Igor auf Instagram. Er dreht die Kamera, man sieht die Gruppe, wie sie im Gang tanzt, schreit und singt. Kurz vor der Ankunft, es ist fast Mitternacht, wird noch einmal das Kadima-Lied angestimmt: „Ich bin auch jüdisch, das ist nicht geheim, habe keine Angst, niemand kriegt uns klein, zusammen sind wir stark, du bist nicht allein.“

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.