Thema – Generationen

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„Es herrschte eine Stimmung wie in der Kaserne“

Bis in die 90er wurden in Deutschland Millionen Kinder in sogenannte Erholungsheime verschickt. Zurück kamen viele mit ein paar Kilo mehr und rosigem Teint – aber auch mit Erfahrungen, die sie selbst als Erwachsene noch einholen

Verschickungsheim

Wenn Kinderärzte in der Nachkriegszeit beschieden, dass Kinder für wenig Geld zur Kur nach Langeoog oder in den Schwarzwald dürfen, war das für die Eltern meist Grund zur Freude. Nach dem Krieg waren viele Familien zu arm für Urlaube oder größere Ausflüge. Für die Kuren, die heute Kinderverschickungen genannt werden, brauchte es wiederum nur eine Diagnose wie „zu dünn“ oder „dauernervös“. Meist wurden die Kinder für sechs Wochen in ein „Erholungsheim“ geschickt, um an die frische Luft zu kommen oder Gewicht zuzulegen. Statt Ferien erwartete manche aber Gewalt, Zwangsernährung und Medikamentenmissbrauch, wie sie hier erzählen.

Detlef Lichtrauter, 61, Musiklehrer aus Issum und Vorsitzender des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW“:

„Ich war zwölf, als ich die typische Diagnose eines Verschickungskindes bekam: Ich sei zu dünn, sagte der Kinderarzt. Er schickte mich zum Aufpäppeln für sechs Woche ins Haus Bernward in Bonn.

Es herrschte eine Stimmung wie in der Kaserne. Die Betreuerinnen sprachen laut und harsch. Vor allem bei den Mahlzeiten: Wir mussten für unser Alter immer viel zu viel essen. In den ersten Wochen zwei Brote mit fettiger Wurst zum Frühstück, ab der dritten Woche vier. Aufstehen durfte, wer aufgegessen hatte. Manchmal erbrachen Kinder auf den Teller, weil sie nichts mehr runterbekamen. Die mussten dann ihr Erbrochenes essen.

Das Schlimmste im Haus Bernward war aber ein Arzt. Er war cholerisch und gewalttätig, jeder hatte Angst vor ihm. Einmal, als wir nachts zu laut waren, kam er in den Schlafraum, riss einem Jungen nach dem anderen die Hose runter und verprügelte sie. Ich habe mich schlafend gestellt und wurde verschont, auch, weil ich am weitesten von der Tür entfernt lag.

Ein Rechtsanwalt berichtete später, nach der Schließung des Heimes, Dias mit Kinderpornografie gefunden zu haben. Es kam nie zu einer Anzeige.

Ich selbst habe weder sexuelle Übergriffe erlebt noch beobachtet. Nur an eine Sache erinnere ich mich: Bei den wöchentlichen Untersuchungen nahm der Arzt das Bündchen unserer Unterhose, warf einen Blick hinein und ließ das Bündchen wieder flitschen. Ich habe mich schon damals gefragt: Warum macht der Mann das?“

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Speisesaal eines Verschickungsheims
Die Archivbilder auf dieser Seite stammen aus verschiedenen Verschickungsheimen in Nordrhein-Westfalen

Wie viele Menschen solche Erfahrungen machen mussten oder wie viele solcher Heime es gab, ist nicht bekannt. Man weiß heute nicht mal mehr, wie viele „Verschickungskinder“ es überhaupt gab. Die Schätzungen reichen von sechs bis zwölf Millionen. Sicher ist: Die ersten wurden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verschickt, die letzten in den 1990er-Jahren. Organisiert haben das zum Beispiel die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt (AWO) oder das Deutsche Rote Kreuz (DRK), aber auch Städte, Landkreise und einzelne Personen. Manche Träger bemühen sich heute um Aufklärung, zum Beispiel die DAK. Wie viele andere Krankenkassen betrieb sie mehrere Heime in ganz Deutschland.

Die DAK hat sich öffentlich bei den Betroffenen entschuldigt und eine Studie zur Aufarbeitung in Auftrag gegeben, die 2023 erscheinen soll. Die erstellt der Historiker Hans-Walter Schmuhl, der mit vielen Betroffenen gesprochen hat. Es gebe strukturelle Vorgehen, sagt Schmuhl, von denen viele berichten, zum Beispiel der Essenszwang. Andererseits seien die Erfahrungen durchaus von Heim zu Heim verschieden. „Manche haben die Zeit recht positiv in Erinnerung und sind unbeschadet davongekommen“, sagt Schmuhl. „Andere sind tief traumatisiert, für sie ist die Verschickung ein großes biografisches Problem.“

Angelika W., 70, Rentnerin aus Mannheim:

„Zum ersten Mal verschickt wurde ich als Sechsjährige. Das war schrecklich: Ich war gerade erst eingeschult – und plötzlich für sechs Wochen raus. Dadurch habe ich viel verpasst, ich konnte weder lesen noch schreiben und musste alles nachholen.

Ich wurde auf ärztlichen Rat mit meinem älteren Bruder nach Bad Sassendorf verschickt, weil wir zu dünn waren. Unsere Eltern haben sich darüber gefreut. Sie dachten, sie tun etwas Gutes für ihre Kinder. Wir hatten nicht viel Geld und hätten uns einen gemeinsamen Urlaub nicht leisten können.“

Dass sich manche Träger um Aufklärung bemühen, befürwortet der Historiker Hans-Walter Schmuhl. Besonders lobt er die Vorhaben der vergangenen Jahre in Nordrhein-Westfalen. Dort hat das Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales eine eigene Studie über die Verschickungsheime beauftragt. Sie erschien im Januar 2022 und offenbart zum Beispiel, dass sich die Heime in NRW organisatorisch und pädagogisch noch an der Weimarer Republik und der Nazizeit orientierten: Es ist die Rede von mentalen und personellen Kontinuitäten.

Ingrid Retterath, 57, Autorin und Beamtin aus Hürth:

„1973 stieg ich mit einer fremden, strengen Frau in den Zug von Köln nach Bad Nauheim. Meine Mutter durfte ich nicht richtig verabschieden. Das würde es nur schlimmer machen, meinte die Betreuerin. In Bad Nauheim empfing uns eine „Tante“, so hatten wir die Betreuerinnen zu nennen. Ich hatte bei der Ankunft ihren Namen nicht verstanden und fragte sie deshalb noch mal. Daraufhin bekam ich eine Backpfeife und die Ansage, ich dürfe nur sprechen, wenn man mich etwas fragt.

Laut meinem Hausarzt war ich zu dünn. Ich nahm also im Speisesaal am Tisch der Kinder Platz, die zunehmen sollten. Es gab auch einen für die, die zum Abnehmen da waren. Die bekamen Rohkost, die ich damals gern mochte; wir bekamen zu meinem Entsetzen eine Suppe vorgesetzt, von der ich bis heute nicht weiß, wonach sie schmecken sollte. Auf ihr schwammen dicke Speckwürfel, als Beilage gab es ein fett mit Butter bestrichenes Brot. Ich musste würgen.

Einmal wurde ich nachts bei einem Toilettengang erwischt. Ich musste mit Kopfkissen und Decke im Flur schlafen. Es gab ein Stufensystem von Strafen, das allen bekannt war. Hätten sie mich noch mal erwischt, wären gefolgt: Flur ohne Kissen und Decke – Duschraum ohne Kissen und Decke – Duschraum nur in Unterhose – sitzend im Speisesaal schlafen.

Lange waren alle diese Erinnerungen wie gelöscht, obwohl ich 1976 noch mal in dieser Kurklinik war. Heute glaube ich, dass die Verschickungen ihren Anteil an meiner Persönlichkeit haben. Ich kann mir zum Beispiel kaum Namen merken und traue mich nicht nachzufragen, wenn sich jemand schon vorgestellt hat. Ich habe Schlafprobleme und kann selbst im Urlaub nicht ‚einfach mal nichts machen‘: Langeweile erinnert mich an die Klinik.“

In NRW erreichte die Zahl der Verschickungskuren in den 1960er- und 1970er-Jahren ihren Höhepunkt, nachdem ein neues Bundessozialhilfegesetz ihre Finanzierung erleichterte. Aus diesem Zeitraum wurde laut der Studie auch von den meisten Misshandlungen berichtet.

Schon im November 2021 hat der Landtag Nordrhein-Westfalens beschlossen, die Aufarbeitung zu finanzieren. Der Verein „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW“ (AKV-NRW) kann mit festangestellten Mitarbeitern ein Citizen-Science-Projekt betreiben. In dieser „praktizierten Bürgerforschung“ tauschen sich Betroffene aus, etwa in Selbsthilfegruppen, betreiben Öffentlichkeitsarbeit, treten mit Wissenschaftlern in Kontakt und organisieren Kongresse. „Wir wollen wissen, welche Mitwissenden damals nicht eingeschritten sind, welche Ämter und Fachkräfte ihre Kontrolle nicht ausgeübt haben“, sagt Detlef Lichtrauter, Vorsitzender des AKV-NRW. „Wir wollen, dass unser Unrecht anerkannt wird und Formate des Erinnerns entstehen.“

Fotos: Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.