In Städten ist Migration der Normalfall und hat die Kultur geprägt. Migranten sind Chefinnen und Arbeitskollegen. In einem Park in Berlin stehen so viele kleine mobile Garküchen, dass er nun von den Anwohnern „Thai-Park“ genannt wird. Ein vermeintlich deutsch-türkischer Akzent mit arabischen Einsprengseln wird zur etablierten Jugendsprache, und der Aufdruck eines Jutebeutels fragt: „Wieso redet Jörg wie Ali?“
Aber Migration gibt es nicht nur in Großstädten: Auch in Schwäbisch Gmünd, einer 50.000-Einwohner-Stadt in Ostwürttemberg, ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund hoch. Seit der Nachkriegszeit arbeiteten Menschen aus Italien und der Türkei in der örtlichen Industrie im Schichtdienst und blieben. Gmünd ist damit eine Migrationsstadt der ersten Stunde.
Und wie sieht es aus in Brandenburg oder dem ländlichen Niedersachsen? Oder in den Dörfern in Baden-Württemberg? Da denkt man eher an Sportvereine, Rinder und Seen, die Landkultur blieb lange weiß. Das zeigt sich auch wenige Kilometer von Gmünd entfernt in Rechberg. Der katholische Wallfahrtsort hat 1.300 Einwohner, die Alteingesessenen bleiben eher unter sich. Die türkischen, albanischen, polnischen und französischen Nachbarn sind nicht Teil der Dorfidentität und werden kaum wahrgenommen. Bis Zugezogene wirklich dazugehören, kann es schon mal drei Generationen dauern, und das galt schon für weiße, deutsche Kriegsflüchtlinge nach 1945. Die Aufregung war daher groß, als Rechberg im Jahr 2016 eine zehnköpfige Flüchtlingsfamilie zugewiesen wurde.
Zugewiesen heißt, dass die Stadt Gmünd eine Wohnung anmietete und das Integrationsamt die Familie dort einquartierte. Die Ortsvorsteherin von Rechberg hatte die Vermieterin der Wohnung dazu motiviert und einige Nachbarn versammelt, um die Familie in den kommenden Monaten zu begleiten. Den Mitgliedern bei Gängen auf Ämter zu helfen, bei Schulanmeldungen oder ihnen die deutsche Mülltrennung zu vermitteln. Die Familie kommt aus Syrien, die Kinder waren zwischen zwei und 20 Jahren alt. Der Vater fand eine halbe Zugstunde von Schwäbisch Gmünd entfernt eine Arbeitsstelle. Die ganze Familie profitiert bis heute stark von der nachbarschaftlichen Hilfe – ebenso wie die Menschen, die sie unterstützen. Sie sind selbst meist Zugezogene, die eine eher randständige Position im Dorf innehaben und bisher nur wenig untereinander vernetzt waren. Nun trinken plötzlich Menschen gemeinsam Kaffee, die jahrzehntelang nebeneinanderher gewohnt haben. Und ein stilles Ehepaar im Rentenalter wurde zum Knotenpunkt der Nachbarschaftshilfe. Nicht nur die Geflüchteten, auch Rechberg hat davon profitiert, dass Menschen mit Migrationshintergrund verstärkt in den ländlichen Raum zogen.
Bereits in den 1990ern wurden kleinen westdeutschen Gemeinden Russlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge zugewiesen. Allerdings unterschieden sich die neuen Bewohner in ihrer Hautfarbe nicht von den Alteingesessenen. Das ist heute anders, hinzu kommt die Sprachbarriere. In der märkischen Schweiz, östlich von Berlin, hört man jetzt nicht nur Deutsch, sondern auch Arabisch. Immigration nach Europa hat den ländlichen Raum erreicht. Und die neuen Bundesländer.
Dazu gehört auch die Gemeinde Golzow im Oderbruch. Der Strukturwandel und die demografischen Veränderungen bedrohen das Dorf: Von den 850 Einwohnern ziehen immer mehr weg, der Milchbetrieb musste vergangenes Jahr schließen, weitere 30 Arbeitsplätze gingen dadurch verloren. Junge Leute verlassen das Dorf, es gibt immer weniger Kinder. 2015 sah es so aus, als ob die erste Klasse in der Golzower Grundschule nicht mehr zustande käme – es fehlten zwei Anmeldungen. Deshalb bat Bürgermeister Frank Schütz die Behörden, Familien mit Kindern nach Golzow zu schicken – und wenige Wochen später wurde die erste von drei Familien im Dorf mit einem Blumenstrauß begrüßt. Zu Beginn des Schuljahres waren vier ihrer Kinder in der Schule, eines in der Kita – und die erste Klasse war gerettet. Die Ausweglosigkeit der Situation überzeugte zweifelndes Schulpersonal ebenso wie Eltern, die „als Kinder schon mal Hakenkreuze an die Bushaltestelle geschmiert haben“, berichtet die Schulleiterin Gabriela Thomas. Auch hier: eine Win-win- Situation, denn die Geflüchteten stammten selbst aus Dörfern. In Golzow konnten sie bei den Nachbarn im Garten mithelfen, bis sie selbst Schrebergärten anmieteten.
Auch die Gemeinde Amt Neuhaus in Niedersachsen hat mit den großen Entfernungen zu den Städten und dem Mangel an Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten zu kämpfen. Schon seit Jahren lebten immer wieder Geflüchtete in Amt Neuhaus, doch aufgrund der schlechten Chancen, einen Job zu finden, zog selbst die am besten verwurzelte Familie wieder weg. Heute kämen nur noch Selbstständige oder Rentner – Menschen mit einem gesicherten Lebensunterhalt, erzählt Bürgermeisterin Grit Richter.
Doch im Herbst 2015 wurde in einem Dorf der Gemeinde Amt Neuhaus eine Notunterkunft für bis zu 750 Geflüchtete eingerichtet – bisher hatten in dem Ort nur 102 Menschen gelebt. Das traf auf massiven Widerstand. Obwohl auf einer Bürgerversammlung große Ängste und Vorurteile geäußert wurden, setzte das niedersächsische Innenministerium das Vorhaben durch. Doch innerhalb weniger Monate konnte die schlechte Stimmung im Ort zum Positiven gewendet werden. Der Leiter der Unterkunft, die Bürgermeisterin und Ehrenamtliche forcierten die systematische Einbindung der Alteingesessenen und Geflüchteten, und es entstanden persönliche Kontakte. Als die Notunterkunft nach zwölf Monaten planmäßig geschlossen wurde, zogen fast alle Geflüchteten wieder weg – zum Bedauern vieler Einwohner.„Die Gemeinde ist jetzt wieder in ihren Dornröschenschlaf zurückgefallen“, bedauert die Bürgermeisterin. Während Golzow es durch eine gute Bahnverbindung schaffte, Geflüchtete über einen längeren Zeitraum zu halten, fehlte in Amt Neuhaus schlicht die Infrastruktur. Dörfer ohne Busverbindung, Einkaufs- möglichkeiten oder Schulen laden nicht zum Bleiben ein.
Allerdings ist Amt Neuhaus in anderer Hinsicht exemplarisch. Die Gemeinde macht vor, wie durch eine intensive Zusammenarbeit persönliche Beziehungen aufgebaut werden können: Der Leiter der Flüchtlingsunterkunft, die Bürgermeisterin und viele Ehrenamtliche veränderten durch ihre Arbeit die abweisende Stimmung im Ort. Und die örtliche Zivilgesellschaft – Vereine, Kirchengemeinden und Lehrer – zog mit. Die Gemeinden haben gezeigt, dass Geflüchtete kein Fremdkörper bleiben müssen. Im Gegenteil: Die aussterbenden Dörfer können durch einen arbeitsreichen Prozess der gegenseitigen Öffnung vernetzt und am Leben erhalten werden. Die Voraussetzung dafür ist, dass ein Bus fährt und dass man neuen Bewohnern das Gefühl gibt, erwünscht zu sein. Denn wer würde schon in ein Dorf ziehen, in dem sich niemand für einen interessiert?