Ostfriesen
Von Michael Brake
Nein, Angst vor dem Meer hat Michael Recktenwald nicht. Nur Respekt. „Ich habe meine Kindheit quasi am Strand verbracht“, sagt der 53-Jährige aus Langeoog. Die Familie seiner Frau Maike lebt sogar schon in vierter Generation auf der Insel. Wind und Wasser, das beunruhigt einen da nicht. „Was uns Angst macht, ist der Anstieg des Meeresspiegels, der belegbar immer schneller vonstattengeht“, sagt Michael Recktenwald. So ist etwa an der Messstelle Norderney-Riffgat das Wasser zwischen 1971 und 2014 um 15 Zentimeter gestiegen.
Gemeinsam betreiben die beiden ein Hotel und ein Restaurant, nur ein paar Dutzend Meter vom Strand entfernt thront ihr „Seekrug“ in den Dünen von Langeoog. Nun wird Langeoog so schnell nicht untergehen. Aber dass bei den herbstlichen Sturmfluten das Wasser immer höher aufläuft, ist eine reale Gefahr für die natürlichen Süßwasserreserven Langeoogs. Die befinden sich, wie bei allen Ostfriesischen Inseln, im Sandsockel der Insel, gespeist vom Regenwasser, das im Boden versickert und sich dort über dem schwereren Salzwasser des Meeres hält. Würde dieser Vorrat, etwa durch eine heftige Sturmflut, von oben verunreinigt, gäbe es große Probleme.
Bereits jetzt werden viele Millionen Euro in den Küstenschutz Langeoogs investiert: Seit Jahren wird regelmäßig mit Pipelines und Spezialschiffen Sand aufgespült, um Strand und Dünen zu stabilisieren. „Das muss man sich ein wenig vorstellen, wie man das aus Dubai kennt, wo sie diese Palmeninseln ins Meer schütten“, sagt Michael Recktenwald.
„Wir wussten vorher gar nicht, dass man die EU verklagen kann“
Aufgrund dieser reellen Gefahr, die auch für die anderen Ostfriesischen Inseln besteht, wollte die NGO Protect the Planet beim People’s Climate Case auch eine Inselgemeinde mit ins Boot holen. Die fand sich nicht, aber Langeoogs Bürgermeister vermittelte sie gleich an die Recktenwalds weiter, die neben dem „Seekrug“ auch das einzige Biohotel Langeoogs betreiben. „Wir wussten vorher gar nicht, dass man die EU verklagen kann“, so Recktenwald. „Wir haben es dann im Familienrat besprochen und waren schnell dabei.“
Um den juristischen Hebel im Sinne des EU-Rechts ansetzen zu können, ist in ihrem Fall die „Bedrohung der Berufsfreiheit“ das Argument: Ohne Süßwasservorrat kein Tourismus. Zwar könnte Trinkwasser auch mit einer Leitung vom Festland kommen – Wangerooge und Baltrum werden so versorgt. „Aber das ist ja nicht übermorgen fertig“, sagt Recktenwald. „Und eine Saison ohne Tourismus, da muss man sich nix vormachen: Dann wäre für uns Ende.“
Letztlich ist die Berufsfreiheit aber nur ein Mittel zum Zweck, es geht den Recktenwalds um den Klimaschutz – und, im Sinne der Klage, um ihren 17-jährigen Sohn: Der soll sein Leben auch auf Langeoog verbringen können. Während sie warten, ob die Klage Erfolg haben wird, betreiben sie schon Klimaschutz im Kleinen, servieren zum Beispiel Lebensmittel aus ökologischem Landbau, nutzen Ökostrom und haben den Fleischanteil beim Mitarbeiteressen radikal reduziert. Warmwasser gewinnen sie durch Sonnenenergie vom Dach, und mit „Fotovoltaik wollen wir in den nächsten zwei Jahren auch mehr machen“.
Ein finanzielles Risiko geht die Familie mit der Klage nicht ein. Das Einzige, was sie investieren muss, ist Zeit. „Die Masse der Medienanfragen hat uns von den Füßen gehauen“, sagt Michael Recktenwald. Das zeige, wie wichtig das Thema den Menschen ist – „anscheinend wichtiger als den Politikern“.
Ostafrikaner
Von Tanja Mokosch
Wenn die Kinder der Familie Guyo am Morgen durch die Steppe zur Schule laufen, trägt jedes ein Stöckchen in der einen Hand und einen Kanister in der anderen. Je älter das Kind, desto größer der Kanister. Wasser und Feuerholz sind die Währung, in der Familie Guyo die Schulgebühren begleicht. Doch wenn man sich ansieht, wie an manchen Stellen im lehmigen Boden unter den blanken Füßen der Kinder immer mehr Spalten aufklaffen, weil kein Tropfen Flüssigkeit mehr die Erde zusammenhält, dann ahnt man, dass sich die Familie dieses „Schulgeld“ irgendwann nicht mehr wird leisten können. Weil es einfach nicht mehr da sein wird.
Die Guyos leben in einem kleinen Dorf im Norden Kenias, nahe der Grenze zu Äthiopien. Die nächste geteerte Straße liegt mehr als 60 Kilometer entfernt. Die Familie hütet Ziegen, Kühe und Kamele. Ihre eigenen Tiere, aber auch die von Nachbarn aus umliegenden Dörfern für ein wenig Geld. Seit Generationen bestreitet die Familie so ihren Alltag. Sie braucht fast nichts, und lange reichte das. Doch jetzt verklagt die Familie Guyo die Europäische Union im People’s Climate Case.
Die Guyos klagen ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit ein
Denn der Regen kommt immer seltener. Und wenn er kommt, dann zu früh oder zu spät – und umso heftiger. Im vergangenen Jahr ist der 14-jährige Sohn der Familie gestorben, ertrunken, weil heftiger Regen die staubtrockenen Flussläufe in kürzester Zeit zu reißenden Strömen gemacht hat. Das berichtet Markus Raschke von der NGO Protect the Planet, die den People’s Climate Case mitorganisiert. Raschke hat die Guyos schon mehrfach besucht. Wie und wann es in ihrem Dorf regnet, hat sich als Folge der „Klimaüberhitzung“ – so nennt es Raschke – verändert. Die sogenannte „lange Regenzeit“, die im März beginnt, dauert normalerweise bis Mai. Doch sie wird immer kürzer. An den wenigen Stellen, an denen sich das Wasser nach dem Regen noch in Kuhlen zu kleinen Tümpeln sammelt, versiegt es schnell. Schneller als früher, sagen die Guyos.
Inzwischen kann es im Dorf bis zu 40 Grad heiß werden, Raschke hat das selbst gemessen. Die Wasserstellen liegen oft kilometerweit weg vom Dorf und werden von Mensch und Tier geteilt. Wo eine Kuh nach dem langen Marsch ihr Geschäft verrichtet, schöpft wenige Meter weiter ein Kind einen Kanister voll und nimmt einen großen Schluck daraus, erzählt Raschke.
Weil vom Regen in der kenianischen Steppe ihr Überleben abhängt, klagen die Guyos unter anderem ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit ein. Auch ihr Recht auf Schutz des Eigentums wollen sie erstreiten: Wenn ihre Tiere nichts zu trinken haben, verdursten sie.
Roba Wako Guyo will, dass jemand entscheidet, ob das, was ihm und seiner Familie gerade widerfährt, gerecht ist. Doch selbst wenn die Klage erfolgreich sein sollte: Mehr wird das Wasser so bald nicht, das weiß Familie Guyo. Ihr Ziel ist es, jedes Mal aufs Neue, die nächste Trockenheit zu überstehen. Und ihre Hoffnung ist es, dass auch ihre Kinder und die nachfolgenden Generationen noch in der nordkenianischen Steppe werden leben können.
Was ist der People’s Climate Case?
Das Volk gegen die Europäische Union: So funktioniert der „People’s Climate Case“. Das Volk, das sind sieben Familien aus Europa, eine aus Kenia und eine von den Fidschi-Inseln sowie eine schwedische Jugendorganisation. Sie werfen der EU vor, mit ihrer aktuellen Klimapolitik gegen ihre Grundrechte zu verstoßen. Denn die festgelegten Klimaziele bis 2030 seien nicht weitreichend genug: Statt der geplanten CO2-Reduktion um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 müssten es zwischen 50 und 60 Prozent sein, um unter zwei Grad Erderwärmung zu bleiben. Die Kläger fühlen sich von Dürren, Wassermangel, einem Anstieg des Meeresspiegels oder extremem Wetter in ihren Grundrechten bedroht oder spüren ihre Folgen schon jetzt. Deshalb haben sie beim Gericht der Europäischen Union (EuG) eine Klage gegen den Europäischen Rat und das Europäische Parlament eingereicht. Initiiert hat die Klage die Nichtregierungsorganisation Protect the Planet, die auch die damit verbundenen Kosten trägt. Ein Netzwerk von NGOs hat mögliche Klägerparteien ausfindig gemacht und Anwälte beauftragt. Die EU hatte gefordert, die Klage wegen Unzulässigkeit abzuweisen, worauf die Kläger eine Erwiderung eingereicht haben.
Jetzt muss das EuG beurteilen, ob die Klage zulässig ist – dafür müssten nämlich alle Kläger von den Folgen des Klimawandels „unmittelbar und individuell“ betroffen sein. Es kann also nicht etwa eine ganze Dorfgemeinschaft klagen, weil sich das Wetter verändert hat. Deswegen hat jede Klagepartei einen spezifischen Grund angegeben: Der Lavendelbauer in Südfrankreich erntet weniger Lavendel und hat dadurch finanzielle Einbußen. Die Mitglieder des schwedischen Jugendverbands züchten Rentiere, die im Winter nicht mehr genug zu fressen finden. Das gefährdet ihre indigene Tradition. Wenn die EU ihre Klimaziele nicht verbessert, verstoße das unter anderem gegen das Recht auf Leben und Gesundheit oder auf Eigentum und Berufsfreiheit.
Die Kläger fordern keine Geldentschädigungen. Sie fordern nicht mehr und nicht weniger, als dass die EU das tut, was sie für möglich halten, um den Klimawandel zu stoppen.
Illustrationen: Bene Rohlmann/Sepia