In den USA, Australien und in England gibt es schon länger eine heftige Debatte über „kulturelle Aneignung“ – also über etwas, bei dem in Deutschland bisher vielen nicht bewusst war, dass es für irgendjemanden ein Problem darstellen könnte.

Kulturelle Aneignung meint die Übernahme von Elementen einer Kultur durch Mitglieder einer anderen kulturellen Gruppe: etwa mit einer Federkrone im Haar über Festivals oder durch den Karneval zu tanzen, wenn man selbst kein Native American, sondern ein weißer Schwäbisch-Native ist. Gegner der kulturellen Aneignung finden das insbesondere dann problematisch, wenn Personen einer gesellschaftlich privilegierten Gruppe Elemente aus der Kultur einer Minderheit oder einer diskriminierten Gruppe übernehmen.

Darf man das? Arno Frank und Eva Hoffmann sind da unterschiedlicher Meinung.

PRO: Das ist die falsche Schlacht

Unser Autor Arno Frank meint: Das Geschimpfe über kulturelle Aneignung ist nicht nur unberechtigt – niemandem wird etwas weggenommen –, sondern auch gefährlich. Nämlich in der Argumentationslogik gefährlich ähnlich der von Rechtsextremen.

Ich habe auch etwas gegen Dreadlocks, Sushi und Tätowierungen. Aus ästhetischen, nicht aus politischen Gründen. Gegen „kulturelle Aneignung“ habe ich nichts, im Gegenteil. Schon allein deshalb, weil es so etwas wie kulturelle Aneignung nicht gibt.

Wenn eine weiße Studentin sich strähnige Filzlocken wachsen lässt oder ein weißer Koch ein Sushi-Restaurant betreibt, haben wir es mit einer Anverwandlung gewisser Aspekte kreolischer oder japanischer Kultur zu tun. Eigne ich mir etwas an, ist es nicht mehr Eigentum dessen, von dem ich es mir angeeignet habe.

Und den Rastafari oder Japaner würde ich gerne kennenlernen, der das ernsthaft behaupten würde. Nach dieser Logik müsste es auch jedes Mitglied vom einst so stolzen Stamm der Bayern kränken, wenn „sein“ Oktoberfest von Nordlichtern im Landhausstil übernommen wird. Wer aber sieht am Ende objektiv peinlicher aus – derjenige, der unreflektiert mit Symbolen spielt, oder die Kultur, aus der er sie „entnommen“ hat?

Das Spiel mit dem Fremden kann dessen Würde nicht beschädigen

Davon aber will die Rede von der „cultural appropriation“ nichts wissen. Sie argumentiert streng im Namen der Betroffenen, also „Enteigneten“, die sich gefälligst marginalisiert zu fühlen haben. Sie argumentiert so streng, dass sie das Spielerische im Umgang mit Zeichen anderer Kulturen und Ethnien nicht duldet. Sie argumentiert, eine privilegierte, weil herrschende ethnische Mehrheit entwende Rituale oder Symbole einer Minderheit – wobei das Diebesgut, einmal aus seinem kulturellen Kontext gelöst, seine spirituelle, kulinarische oder sonst wie traditionelle Bedeutung verlöre.

Wird ein indianisches Kultobjekt wie der Traumfänger im deutschen Kinderzimmer nicht zum kitschigen Staubfänger, ein Buddha aus Thailand in einem Restaurant zu Nippes? Wird es. Macht aber nichts. Weil das kokette Spiel mit dem Fremden dessen Würde nicht beschädigen kann. Wer von Aneignung spricht, meint Ausbeutung und hat Genozide, Sklaverei und Landraub im Sinn. Zu Recht, denn das alles gab es. Mit diesem Unrecht begann einst die Globalisierung, die sich heute als unaufhörlicher Austausch nicht nur von Waren, sondern auch von Zeichen darstellt.

Deshalb schlägt die Rede von der „kulturellen Aneignung“ Schlachten, die seit Jahrhunderten verloren sind – und drückt sich vor Schlachten, die vielleicht noch zu gewinnen wären. Nicht das Bindi auf der Stirn einer weißen Festivalbesucherin ist das Problem, sondern die Unterdrückung der Frau in Indien. Nicht der mexikanische Sombrero auf einer Tequila-Party ist unverschämt, sondern die Ausbeutung des Landes durch westliche Konzerne. Wer von „cultural appropriation“ spricht, tut das, um möglichst dünne Bretter zu bohren. Und von der täglichen realen Aneignung von Arbeitskräften oder Rohstoffen zu schweigen.

Das Beharren auf der Reinheit kultureller Identitäten ist ursprünglich auf der rechten Gegenseite zuhause

Polynesische Tattoos auf weißen Waden oder Zulu-Tanzkurse an der Volkshochschule mögen unappetitliche Versuche der Anverwandlung sein – Hindernisse für ein gedeihliches Miteinander der Kulturen sind sie nicht.

Indem sich die progressive Linke aber ganz auf den „identitätspolitischen“ Kampf gegen solche Zeichen konzentriert, spielt sie ausgerechnet ihren gefährlichsten Gegnern in die Hände. Denn das sture Beharren auf der Reinheit kultureller Identitäten ist ursprünglich auf der Gegenseite zu Hause, etwa bei der rechtsextremen „Identitären Bewegung“. Gerade völkische Ideologien wollen „Abstammungsgemeinschaften“ sauber voneinander trennen und eben keinen spielerischen Austausch dulden. „Ethnopluralismus“ nennen die Identitären ihre reaktionäre Weltanschauung, der zufolge jedes Volk seine Kultur vor fremden Einflüssen schützen muss. Dagegen sollte man etwas haben, aus ästhetischen und politischen Gründen.

Arno Frank ist freier Autor und hat sich für eine Party mal als Frau verkleidet. Das falle auch unter „cultural appropriation“, wurde ihm erklärt, weil es Transgender und Transsexuelle verhöhne. Als „Frau“ auf dem Weg zur Party hat er durch obszöne Zurufe von Passanten oder aus fahrenden Autos sehr viel über Sexismus gelernt.

CONTRA: Solidarität statt Saris

Man kann auch Spaß haben, ohne andere damit zu verletzen. Kulturelle Aneignung ist so 17. Jahrhundert, findet unsere weiße Autorin Eva Hoffmann.

Vielleicht stolperst du über das Wort „weiß“ da oben. Mit du meine ich eine Person, die es wie ich nicht gewohnt ist, ihre Hautfarbe zu benennen. Eine weiße Person. Die nie nach ihrer Herkunft gefragt wird. Und die sich hiermit angesprochen fühlen darf.

Wir schreiben das Jahr 2016, und du möchtest feiern, wie du willst. Verstehe ich. Du kochst gern mit Gewürzen jenseits der Salz-Pfeffer-Achse. Auch nachvollziehbar. Du möchtest styletechnisch herausstechen. Go ahead. Aber brauchst du dafür wirklich Federschmuck? Musst du dein Essen als „orientalisch“ anpreisen und dir die Haare zu Filznudeln häkeln? Das verzweifelte Streben nach Individualität mittels Ethno-Label hat einen Namen: kulturelle Aneignung.

Individualität braucht kein Ethno-Label

Das bedeutet erst mal so viel wie: Ich nehme mir etwas von einer anderen Person, ohne zu fragen, und nutze es völlig zweckentfremdet zum eigenen Profit. Es ist also eine hierarchische Praxis und im Fall der kulturellen Aneignung auch eine rassistische: Der ethno-romantische Blick enthebt wenige Elemente einer Kultur zu deren „typischen“ Merkmalen. Ohne dass diejenigen, denen diese Symbole etwas bedeuten, ein Mitspracherecht hätten. So werden gleichzeitig ganze Gruppen auf wenige Merkmale reduziert. Der Sari beispielsweise wird so zum stereotypen Platzhalter für den Hinduismus oder gleich ganz Indien.

Apropos Indien: Beim Holi-Festival bewerfen sich Tausende Teenager zu Techno-Sounds mit Farbpulvern. Ein Instagram-Spektakel. In Indien markiert das Fest eine heilige Zeit, in der die gesellschaftlichen Schranken etwa durch Geschlecht und gesellschaftlichen Status aufgehoben sind und in der Menschen sich mit zuvor geweihten Farben bewerfen. Hierzulande fällt die religiöse Pietät eher mau aus: Obwohl sich mehrere indische Gemeinden gegen die Durchführung des Festivals als „Happening“ aussprachen, gibt es die Ethno-Loveparade mittlerweile in jedem Kaff. Wesentlich für das Gelingen kultureller Aneignung: Kritik von Betroffenen unbedingt ignorieren.

Die Ignoranz der Urkartoffel

Man wird ja wohl noch feiern dürfen? Du bist mit Sicherheit weiß, wenn du so was sagst. Auch Aussagen wie „Die Hautfarbe spielt für mich keine Rolle“ stammen meistens von Weißen. Nur sie können sie sich leisten. Weißsein, das ging immer mit einem Selbstbild von Fortschritt, Moderne, Überlegenheit einher. Und von dieser Position aus wird bis heute definiert. Von allen „anderen“ leihen wir Weißen uns das, was wir ihnen als besonders ursprünglich zuschreiben: die Masken, die Federn, die Gewürze. Ein bisschen Exotik für unsere fade Existenz.

Mit deinem Kultur-Kostüm setzt du diese koloniale Tradition des Zuschreibens fort. „Dreadful“ nannten Kolonisatoren die Haare der Sklaven, die von Arbeit und Gefangenschaft verfilzt waren, die aber auch eine bewusste Abgrenzung vom Schönheitsideal der britischen Oberschicht darstellten. Mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre und der Rastafari-Bewegung wurden Dreads dann zum emanzipatorischen Symbol schwarzer Menschen. Als weiße Person könntest du einfach aufhören, Anspruch auf diese Symbolik zu erheben.

Bei Wikipedia wird „Indianer“ als koloniale Fremdbezeichnung eingeordnet, die von den Mitgliedern der damit angesprochenen Gesellschaften abgelehnt wird. Warum gibt es dann immer noch „indianisches Essen“ auf Festivals? Obwohl die Ureinwohner Amerikas fast ausgerottet wurden, obwohl die Überlebenden bis in die 1960er-Jahre in den USA nicht wählen und ihren Federschmuck jahrhundertelang nicht öffentlich tragen durften. Und du tanzt mit billigen Plastikattrappen dieser Insignien übers Festival. Es ist eine Frage der Solidarität, sich an dieser Stelle die Federn aus dem Filzhaar zu popeln.

Style ist immer politisch

Kleiner Privilegiencheck: Bist du selbst noch nie Opfer von Rassismus geworden? Kannst du dir aussuchen, wann Schluss mit der Exotik ist? Alle, die in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft nicht als Urkartoffeln durchgehen, können das nicht. Übrigens: Sogar Otfried Preußlers kleine Hexe hat sich schon längst von ihrer rassistischen Sprache verabschiedet. Wann ziehst du nach? Wir schreiben das Jahr 2016. Und kulturelle Aneignung ist immer noch so Kolonialzeit.

Eva Hoffmann schreibt für das Magazin „jetzt“ und lebt in Wien. Ihr Studium in Freiburg war geprägt von viel Wursthaar und der höchsten Ethno-Ladendichte Deutschlands.

Illustrationen: Renke Brandt