
Die Eine oder keine
Ständig geht es darum, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt. Doch es gibt auch die vielen kleinen Momente im Alltag, die für das Mit- statt Gegeneinander stehen. Wir wollen in unserer Reihe „Kurz war alles gut“ einige davon zeigen. Den Anfang macht die Begegnung mit einer Krankenpflegeschülerin
Die Tür fliegt auf: „Was gibt’s?“ „Ich muss aufs Klo“, antworte ich. „Du kannst schon wieder alleine gehen“, blafft mich die Krankenschwester an und knallt die Tür zu. Ich fange sofort an zu weinen.
Weihnachten im Krankenhaus, der Stresslevel des spärlich besetzten Pflegepersonals ist hoch, die Lust, über die Feiertage zu arbeiten, wahrscheinlich gering. Ich weiß das alles. Und trotzdem: Ich habe seit der OP wahnsinnige Schmerzen beim Aufstehen, ich fühle mich allein und ausgeliefert. Da sind Ärzt*innen, die über meinen Körper bestimmen. Pfleger*innen, die mir so nahe kommen wie sonst nur Menschen, denen ich vertraue.
Als es später an der Tür klopft, heule ich immer noch. Eine junge Frau sieht mich an, auf ihrem Schild steht, dass sie Krankenpflegeschülerin ist. Ich versuche mich zu fangen. „Ist nicht schlimm, kannst ruhig weinen. Hat ja keiner Lust darauf, hier zu sein.“ Sie sammelt meine ganzen vollgeschnieften Taschentücher ein, ohne Handschuhe anzuziehen. Ob sie meine ganze Rotze nicht eklig finde? „Ich war zuletzt in der Inneren Medizin, Abteilung Magen-Darm. Da habe ich so viel Durchfall gesehen und gerochen. Neben deiner Rotze frühstücke ich.“ Ich muss lachen.
Ein kurzer Moment macht den Unterschied
Sie ist die Jüngste vom Personal, das mich betreut, und kann wie niemand anderes vermitteln: Wir sind alle ständig auf die Hilfe anderer angewiesen – im Krankenhaus wird es nur besonders sichtbar. Selbst als sie das Blut, das aus meiner Vagina in meine Adiletten getropft ist, auswäscht, schäme ich mich nicht. „Alles menschlich“, sagt sie. Sie packt mich unterm Arm und geht langsam mit mir über den Flur zur Toilette. „Versuch mal, ob du dich alleine draufsetzen kannst. Wenn nicht, bin ich ja da.“
Während die Krankenpflegeschülerin später meinen Blutdruck checkt und mir Schmerztabletten gibt, reden wir über die neueste Folge der Kardashians. Mir fällt auf, dass sie mich bei jedem ihrer Handgriffe mitnimmt und welches Gefühl mir das gibt: Sie misst nicht einfach Fieber, sie kündigt es vorher an. „Ich checke einmal deine Körpertemperatur. Reine Routine.“ Sie hält inne. Es ist nur ein ganz kurzer Moment, aber einer, der mir die Möglichkeit lässt, etwas zu erwidern, selbstbestimmt zu sein.
Ich weiß leider nicht mehr ihren Namen, aber vergessen habe ich diese Krankenpflegeschülerin nie. Ich hoffe, dass sie heute immer noch in irgendeinem Krankenhaus arbeitet.
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Illustration: Lea Dohle