„Komm, leg dich doch zu mir ins Bett.“ Der Patient, an dessen Bett Alina stand, masturbierte, sah sie dabei an. Für die junge Pflegefachfrau und ihre Kolleginnen am RKH Klinikum Ludwigsburg in Baden-Württemberg ist ein Vorfall wie dieser keine Ausnahme. Patienten berühren beim Verbandwechseln „zufällig“ die Brüste, machen anzügliche Bemerkungen: „Wenn ich dich sehe, steigt mein Blutdruck doch sowieso.“ In solchen Situationen fühle sie sich zum Objekt degradiert, sagt Alinas Kollegin Rana, ebenfalls Pflegefachfrau. Sie gehen in manche Zimmer zum Schutz nur zu zweit, sind nicht allein im Raum bei der Intimwäsche – und sie sprechen sachlich und ruhig dabei, erklären die Schritte. Gerade Demenzkranke sind sich häufig ihrer Handlungen überhaupt nicht mehr bewusst. Da helfe nur, immer wieder geduldig klarzumachen, dass man nicht „die Geliebte“ auf der Bettkante ist – oder das „Mäuschen“, sondern eine professionelle Pflegefachkraft.
Alina und Rana gehören zu den wenigen, die sich trauen, offen über sexistische Vorfälle in der Pflege zu sprechen – und den oft schwierigen Umgang damit. Sie sagen, sie wollen damit andere ermutigen, sich zu wehren. Denn betroffen sind viele. Eine bundesweite Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege aus dem Jahr 2021 macht das Ausmaß deutlich: Zwei Drittel des befragten Pflegepersonals in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen erlebten mindestens einmal verbale sexuelle Belästigung, anzügliche Sprüche, Kommentare unterhalb der Gürtellinie. Körperliche Übergriffe erlebte rund die Hälfte. Obwohl so viele betroffen sind, wissen viele nicht, welche Hilfsangebote es seitens ihrer Arbeitgeber gibt und wie sie sich in solchen Fällen verhalten können.
Viele Pflegekräfte sind weiblich, die Chefärzte meist männlich – eine ungleiche Machtverteilung
Das galt lange auch für die über 8.000 Mitarbeitenden an den acht Klinikstandorten der RKH Gesundheit. Rund 70 Prozent von ihnen sind weiblich, auf der Führungsebene hingegen ist das Verhältnis umgekehrt. Es gibt 42 Chefärzte und lediglich zwei Chefärztinnen.
Diese ungleiche Machtverteilung in Krankenhäusern sieht Nadja Schmidt als einen der Gründe für das Problem mit Sexismus. Schmidt, 44 Jahre alt, ist selbst ausgebildete Krankenpflegerin und war früher in der Unfallchirurgie tätig, bevor sie in den Betriebsrat wechselte. Mittlerweile ist sie Pflegereferentin der RKH Gesundheit. Oft viel schwieriger als der Umgang mit Übergriffen durch Patienten seien jene durch Kollegen, sagt sie. Denn da gehe es um Macht, um zur Schau gestellte Dominanz und starre Hierarchien. „Schließlich geht es dabei nie um einen Flirt, eine Annäherung, sondern immer um eine Demütigung und Herabwürdigung der anderen Person.“
Sich zu wehren trauen sich viele nicht, aus Überforderung und aus Angst um die berufliche Zukunft. Hinzu kommt, dass es lange Zeit weder feste Ansprechpartner für Betroffene noch klare Handlungspfade nach Vorfällen sexueller Belästigung gab. Genau darum gründete Nadja Schmidt im April 2021 die Gruppe Gleichstellung. Zusammen mit ihrem Team möchte sie in den Kliniken aufklären, Möglichkeiten aufzeigen, vom entschiedenen Dagegenhalten bis zur Anzeige, damit sich die (vor allem) Mitarbeiterinnen sicher fühlen und Hilfe finden können.
Im Zweifel wird der Täter versetzt und nicht das Opfer. Früher war das meist umgekehrt
Heute werden in einer Broschüre Ansprechpersonen genannt, bei denen das Pflegepersonal Hilfe bekommt. Besonders wichtig: Möchte sich ein Opfer nicht an Kolleginnen und Kollegen wenden, kann es Stefanie Lejeune als Ombudsfrau ansprechen, vor allem wenn es um schwerwiegende sexualisierte Übergriffe geht. Lejeune ist unabhängige Rechtsanwältin. Wenn jemand eine Einschätzung braucht, wissen möchte, ob ein Vorfall arbeitsoder strafrechtlich relevant ist, begleitet sie durch die nächsten Schritte, berät – im besten Fall bis die Betroffene mit der Lösung einverstanden ist. Es ist diese Unabhängigkeit, die Distanz vom Klinikalltag, die wichtig ist für die Opfer, die sich oft scheuen, einen Kollegen „anzuschwärzen“.
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Wer versorgt … unsere Kranken? In der dritten Folge unserer Videoreihe nimmt uns die die Krankenpflegerin Ann-Sophie mit auf ihre Station im Nürnberger Krankenhaus.
Damit künftig solche Fälle gar nicht erst vorkommen, setzen die Mitarbeitenden in Ludwigsburg auf Aufklärung und Prävention. Im Zweifel, sagt Nadja Schmidt, werde dem Täter gekündigt oder er werde versetzt – nicht das Opfer. Letzteres sei die frühere Handhabung gewesen, „weil es eben leichter ist, die Pflegekraft woanders einzusetzen, statt die Stationsleitung neu zu besetzen“, sagt Nadja Schmidt.
Und auch in der Ausbildung für die Pflegefachkräfte wird übergriffiges Verhalten nun stärker thematisiert. „Wo jede Einzelne ihre rote Linie, ihre Grenzen setzt, kann ganz unterschiedlich sein.“ Das zu betonen ist Nadja Schmidt wichtig. Für die eine ist es der doofe Spruch in der Kantine, für andere die anzügliche Bemerkung oder das Starren auf das Dekolleté. Wichtig sei, auch da sind sich die Pflegekräfte einig, sich zu solidarisieren und zusammenzuhalten, statt es kleinzureden, wenn eine Kollegin sich bedrängt fühlt.
„Wir sind laut, wir erheben die Stimme, gehen bewusst damit in die Medien“, sagt Nadja Schmidt, die hofft, dass sich so immer mehr Betroffene trauen, Übergriffe zu melden oder öffentlich zu machen.
Kollegen weise sie mittlerweile zurecht, sagt Alina: Fühle sie sich belästigt durch einen Kommentar, sage sie: „Stopp, ich bin nicht Ihre Süße, mein Name ist Alina.“ Die meisten würden sich dann auch entschuldigen. Dass sich die Frauen trauen, sich Vorgesetzten entgegenzustellen, liegt auch an der Haltung des Arbeitgebers. Die Botschaft: „Wenn sich etwa ein Oberarzt übergriffig verhält, steht die ganze Klinik hinter der Betroffenen, dann ist sie nicht die Untergeordnete, sondern die Stärkere“, sagt Nadja Schmidt.
„Macht den Mund auf, schämt euch nicht, ihr habt nichts falsch gemacht“
Viele Kliniken und Krankenhäuser suchen mittlerweile nach Lösungen. Nadja Schmidt glaubt, dass sich das Image der Pflegeberufe wandeln muss. „Gute Arbeitsbedingungen, faire Bezahlung, keiner tatscht mich an.“ Für sie ist das ein Dreiklang. Pflegepersonal sei nicht in Gottes Gnaden tätig, opfere sich nicht auf, sondern es handele sich um professionelle Fachkräfte. Für Schmidt beginnt das damit, aufzuhören, das Bild der Krankenschwester mit Häubchen und Röckchen zu sexualisieren.
Ihr Appell an Opfer sexueller Belästigung: „Macht den Mund auf, schämt euch nicht, ihr habt nichts falsch gemacht.“
Illustration: Christine Gensheimer