Worum geht’s?
Für Reverend Akpoborie läuft es ganz gut: Seine freikirchliche Gemeinde wächst, in seinen Gottesdiensten passieren ab und zu sogar Wunder, und er selbst lebt in einem schönen Haus in einem Vorort von Lagos, samt Gattin, drei erwachsenen Kindern, einem Hausmädchen und eigenem Auto. Vom Mikrokosmos rund um diese Familie aus Nigerias oberer Mittelschicht handelt „Lagos – Leben in Suburbia“.
Wie wird’s erzählt?
Im Stil einer Telenovela – kurze dialogreiche Szenen in knalligen Farben treiben die Handlung voran, meist bleiben die Protagonist:innen dabei in einem Setting. Und wie es sich für eine Telenovela gehört, geht es vor allem um Zwischenmenschliches und jede Menge Drama: Tochter Keturah hat heimlich einen Freund und wird zugleich von einem jungen Pastor umworben, der für ihren Vater arbeitet. Ihr Bruder Godstime hat gleich zwei ungewollte Verehrerinnen und Stress mit seinem besten Freund, weil er zum Studieren nach Deutschland will. Patriarch Akpoborie wiederum zankt sich mit den Nachbarn über Lärmbelästigung, sein Bruder will sich Geld für zwielichtige Geschäfte leihen, und nebenbei müssen noch ein paar Laiendarsteller für das nächste „Wunder“ in seiner Kirche organisiert werden.
Worum geht’s eigentlich?
Schon im ersten Drittel des Buches blitzen ernstere gesellschaftliche Entwicklungen auf, beispielsweise unterhalten sich zwei Frauen beim Friseur über ein Gesetz, das gleichgeschlechtliche Ehen und Liebesbeziehungen unter Strafe stellt. Und je tiefer der Comic ins Leben der Akpobories vordringt, desto tiefer blickt man als Leser:in in die Risse, die sich hinter der scheinbar heilen Vorstadtexistenz der Familie verbergen, in Tabus und Verbrechen. Am Ende geht es nicht mehr um kleine Dramen, sondern um große: um verbotene Liebe, um Missbrauch, Depressionen und Suizid. Weil Reverend Akpoborie bei alldem eine ziemlich schlechte Figur abgibt, ist „Lagos“ auch eine deutliche Kritik an der Doppelmoral der Kirche – und außerdem an der homophoben Stimmung in der nigerianischen Gesellschaft.
Gut zu wissen:
Englisch ist in Nigeria offizielle Amtssprache, wird aber nicht von allen Menschen dort fließend gesprochen. Dazu gibt es mehr als 500 weitere Sprachen, im Großraum Lagos ist vor allem Yoruba verbreitet. Pidgin-Sprachen, eine Art vereinfachtes Englisch, dienen zur gegenseitigen Verständigung. Wer dabei was spricht – oder auch bewusst nicht spricht –, ist unter anderem Ausdruck der sozialen Schicht, ein Umstand, der auch im Comic abgebildet wird: Mutter Akpoborie etwa verbietet es ihrem Hausmädchen und ihren Kindern, Pidgin zu sprechen. In der deutschen Fassung von „Lagos“ bleiben die vereinzelt auftretenden Pidgin-Sätze unübersetzt. An Dialoge wie „Ah Kyauta, long time. Ich dachte, du kommst nie mehr zurück. – My mama no well, deswegen“ oder „Una hear say, das Homo-Gesetz ist jetzt durch? – Hmm I hear am o. Gestern im Radio“ muss man sich erst mal kurz gewöhnen, dann verleihen sie dem Comic jedoch eine weitere Dimension.
Good Job!
Das Vermischen von Gesellschaftskritik und Alltagsgeschichte kann schnell sperrig und ungelenk wirken. Tut es hier aber nicht dank der sauberen handwerklichen Arbeit von Autor Elnathan John, dessen Erzählkonzept auch sonst voll aufgeht: Wie von einer guten Telenovela ist man von „Lagos“ schnell gefangen und will unbedingt wissen, wie es weitergeht. Dass sich die Abgründe in und um Familie Akpoborie dabei erst nach und nach auftun, sorgt dafür, dass alles organisch wirkt. Dazu trägt auch der unaufgeregte Stil von Zeichner Àlàbá Ònájin bei, der die Straßen, Restaurants, Wohnräume und Busbahnhöfe von Lagos detailreich in Szene setzt und die Gesichter der Protagonist:innen so ausdrucksstark zeichnet, dass sich jede Gefühlsregung sofort überträgt. Durch die starke Dialoglastigkeit der Geschichte kann Ònájin allerdings die visuellen Möglichkeiten des Mediums Comic nur bedingt ausreizen.
Ideal für:
Alle Leute, die immer noch ein Bild von Afrika als Krisenkontinent ohne Mittel- und Oberschicht im Kopf haben. Und zwar ganz gleich, ob man von einer afrikanischen Mittelschicht noch nie zuvor gehört hat oder ob man zwar theoretisch davon weiß, aber praktisch dann doch sehr überrascht ist, wenn man mit Bildern von ihr konfrontiert wird. Umso besser und wichtiger ist es, wenn es auch in Deutschland mehr Bilder, mehr Geschichten, mehr Anschauungsmaterial gibt, um solche Vorurteile nach und nach zu zerstreuen.
„Lagos – Leben in Suburbia“ von Elnathan John und Zeichner Àlàbá Ònájin ist im Avant Verlag erschienen.