Bevor sich Tina Schmidt in einen Cyborg verwandelt, blinzelt sie in die Vormittagssonne, die durch die großen Fenster der Rehaklinik scheint. Sie weiß, dass es gleich anstrengend wird, ihr Körper ist die Belastung der Bewegung nicht mehr gewohnt. Zwei Ergotherapeuten heben sie aus dem Rollstuhl auf ihre Füße, Tina Schmidt greift nach dem Gestell vor sich, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr ist ein bisschen übel, aber sie will die Therapiestunde unbedingt durchziehen. Ein Ergotherapeut setzt ihre Füße auf Kunststoffplatten und befestigt sie mit einer Art Snowboardbindung, während ihr der zweite Therapeut einen Motor auf den Rücken schnallt, der aussieht wie ein eckiger Rucksack. An den Beinen werden Kunststoffschienen mit Klettverschlüssen befestigt, um die Hüfte ein Gurt zur Stabilisierung des Beckens. Der Körper liegt jetzt in Schienen aus Leichtmetall und Carbonfasern, die mit hochsensiblen Sensoren ausgestattet sind – dem Exoskelett. Das Wort „Exo“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „außen“, ein Außenskelett also, etwas, das Krebse haben oder Insekten. Tina Schmidt hat jetzt auch eins, mit dem sie nun wieder laufen lernt.
Schmidt ist seit einem halben Jahr querschnittsgelähmt. Eine Querschnittslähmung bedeutet, dass die unteren beiden oder alle vier Gliedmaßen gelähmt sind. Aber auch dabei gibt es noch unterschiedliche Schweregrade. „Bei einem Motorradunfall bricht oft der Wirbelkörper des Patienten, und dies führt schlimmstenfalls zu einer kompletten Unterbrechung der Rückenmarksbahnen, während bei einer Entzündung, wie Frau Schmidt sie hatte, nicht das komplette Rückenmark geschädigt sein muss. Aus Tierstudien weiß man: Wenn Sie bei einer Katze das Rückenmark durchtrennen und sie aufs Laufband stellen, kann sie wieder laufen lernen. Beim Menschen ist das anders“, sagt der Chefarzt der Schön Klinik in Bad Aibling, Friedemann Müller. „Voraussetzung dafür, dass ein querschnittsgelähmter Patient wieder laufen kann, ist, dass der Patient große Muskeln einigermaßen präzise ansteuern kann.“ Dafür darf das Rückenmark nicht ganz durchtrennt sein, und der Patient muss mit den neuen Informationen, die er im Gehirn und in den Muskeln verarbeiten muss, umgehen können. Bei Tina Schmidt geht das zum Beispiel besser als bei Patienten, die einen Schlaganfall oder einen schlimmen Unfall erlitten haben, weil die Nerven in ihrem Gehirn und am restlichen Körper unbeschädigt sind.
Während der Therapiestunde in der Schön Klinik erkundigt sich der Therapeut bei seiner Patientin, ob ihr auch nicht mehr schwindlig ist. „Bereit“, antwortet Tina Schmidt und beißt die Zähne zusammen. Das Geräusch der Motoren, wenn sie die Gelenke des Gehroboters in Bewegung bringen, erinnert an eine Ziehharmonika. Frau Schmidt setzt einen Fuß nach vorne. Das Exoskelett registriert, wenn sie das Becken kippt, und merkt daran, dass sie den nächsten Schritt machen möchte. Aber es ist nicht so, als müsste die Patientin selbst nichts mehr leisten: „Ich muss selbst das Gleichgewicht halten und meine ganze Konzentration aufwenden, damit sich meine Hüfte mit dem Skelett mitbewegt. Das ist schon sehr anstrengend.“
Professor Gordon Cheng, Inhaber des Lehrstuhls „Kognitive Systeme“ an der TU München, vergleicht die Exoskelett-Therapie mit dem Laufenlernen eines Kleinkindes. „Die Patienten lernen mit einem Exoskelett nicht automatisch wieder laufen, aber sie können das Laufenlernen wieder lernen“, sagt Cheng. Er forscht gemeinsam mit seinem Team an speziellen Exoskeletten, die die Bewegungsimpulse im Gehirn des Patienten aufnehmen und mit der Muskelbewegung des Körpers verknüpfen. Der Patient bekommt für diese Methode ein Gel auf die Kopfhaut aufgetragen und eine Kappe mit Elektroden aufgesetzt, die mit dem Exoskelett verbunden ist. „Wenn Sie etwas denken, entstehen im Gehirn elektrische Signale. Wir können sie für das Exoskelett übersetzen und an den Muskel senden.“
Das Exoskelett, an dem sein Team arbeitet, hat eine Hülle, die aussieht wie aus riesigen Bienenwaben. In jeder dieser Waben befinden sich winzige Motoren. Wenn der Mensch mit dem Fuß den Boden berührt, spürt er im Gehirn eine kleine Reaktion darauf und lernt damit, seine Bewegungen besser zu steuern. „Die meisten Exoskelette geben kein sensorisches Feedback, das ist Gegenstand unserer Forschung“, sagt Cheng. Im Jahr 2016 hat das „Walk Again“- Team eine Langzeitstudie veröffentlicht, die nachwies, dass Patienten, die bis zu 14 Monate mithilfe des Skeletts trainiert hatten, auch ohne dieses wieder Muskeln kontrahieren konnten. „Wir haben ehrlich gesagt gar nicht mit diesem Ergebnis gerechnet“, sagt Cheng „es hat uns selbst verblüfft.“
Tina Schmidt hat im Gegensatz zu vielen anderen Patienten noch Sensibilität in den Beinen, sie spürt den Boden unter ihren Füßen oder Berührungen an ihren Beinen. „Aber die zugehörige Motorik ist nicht mehr da“, sagt sie. „Natürlich kann mich das Gerät nicht sofort dazu bringen, dass ich alleine gehen kann. Aber mein Ziel ist, dass ich so viel Wiederholung in den Bewegungen habe, dass mein Körper weiß, welche Bewegungsabläufe ich machen will, und dass die Nerven dann irgendwann wieder intuitiv reagieren.“
Bisher gibt es die Exoskelette nicht in Serie, also nicht für den Privatgebrauch. Das ist Professor Chengs Traum. „Wir haben ja schon fast die ganze Technologie, jetzt müssen wir nur noch die Kosten reduzieren. Und gerade ist es so, dass das Exoskelett allein nicht ausreicht. Man braucht Therapeuten, Ärzte, Pfleger. Aber meine Idealvorstellung ist, dass ein gelähmter Mensch in 50 Jahren einfach eine bestimmte Kleidung anzieht, zum Beispiel einen Trainingsanzug. Und der ist dann das Exoskelett.“
Im Sommer 2016 hatte ein querschnittsgelähmter Patient vor dem Sozialgericht Speyer geklagt, weil die Krankenkasse ihm kein Exoskelett finanzieren wollte. Die Begründung: Es gebe noch keine langfristigen Studien dazu. Der Patient konnte sich vor Gericht jedoch durchsetzen. Anfang Februar dieses Jahres hat der Verbund der gesetzlichen Krankenkassen das Exoskelett daraufhin in sein Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen. Bis die Änderung für die Patienten spürbar wird, dürfte es allerdings einige Zeit dauern.
Wegen des Preises von circa 120.000 Euro haben bis jetzt nur eine Handvoll Rehakliniken in Deutschland ein Exoskelett angeschafft. In der Schön Klinik Bad Aibling können sowohl privat als auch gesetzlich versicherte Patienten die Therapie in Anspruch nehmen. Es stimme zwar, dass es noch keine langfristigen Studien zur Therapie mit Exoskeletten gebe, sagt Dr. Müller in der Schön Klinik, aber der psychologische Effekt des Trainings mit dem Exoskelett sei enorm. „Es ist nicht realistisch, dass ein Patient nach der Therapie wieder laufen kann wie vor der Lähmung. Trotzdem haben wir gesehen, dass selbst ein behindertes Gehen für jemanden, der bisher im Rollstuhl saß, ein riesiger Fortschritt ist. Selbst ins Bett zu kommen, selbst auf die Toilette zu gehen, das ist für Menschen mit Lähmung eine Verbesserung der Lebensqualität, die sich ein gesunder Mensch gar nicht vorstellen kann.“
„Den Gedanken ‚Ich kann nie wieder laufen‘, den hatte ich nie“, erzählt Tina Schmidt. Für ihren Job als Instruktorin im Fahrtraining bei BMW ist sie auf ihre Beinarbeit angewiesen. Das Exoskelett beweist ihr, dass sie wieder Schritte machen kann – kleine Schritte, aber große Fortschritte. „Ich war ja schon so stolz, als ich das erste Mal mithilfe des Trainingsgerätes wieder stehen konnte“, erinnert sie sich. „Es ist eine Erleichterung, mal aus der Körperhaltung, die man im Rollstuhl hat, rauszukommen. Aber dieses Gefühl, wenn sich nach einer Lähmung das erste Mal die Beine wieder unter einem bewegen. Das kann ich nicht beschreiben. Ich hab so weinen müssen.“