Die Bewohnerinnen von Noiva do Cordeiro dürfen alles, was Herz und Gewissen erlauben. So lautet die Regel. Etwa 300 Menschen leben in dem Dorf knapp 100 Kilometer südlich von Belo Horizonte. Unter der Woche sind fast alle Frauen: Die meisten Männer arbeiten in Belo Horizonte und kommen nur am Wochenende ins Dorf.
Alle zwei Wochen kümmert sich eine Frau im Dorf um die Kinder. Die restlichen 13 Tage ist sie von diesem Dienst befreit
Das meiste, was die Frauen zum Leben brauchen, bauen sie selbst an. Kleinere Gelderträge aus Ernte und Verkauf einer speziellen Chilischote teilen sie untereinander auf. Braucht jemand ein Haus, helfen alle beim Bau. Wer für schwere körperliche Arbeit zu alt ist, näht Unterwäsche oder macht sich auf andere Weise nützlich. Kinder sind in der Dorfgemeinschaft wie in einer riesigen Familie zu Hause, denn die Mütter teilen sich auch die Erziehungsarbeit: Einmal alle zwei Wochen kümmert sich eine Frau um alle Kinder. Die restlichen 13 Tage ist sie von diesem Dienst befreit. Das gleiche System gilt für die Pflege der älteren Bewohnerinnen. Gibt es mal Streit, wird so lange geredet, bis alles geklärt ist.
Homo- und heterosexuelle Beziehungen sind im Dorf gleichermaßen akzeptiert, genau wie geschiedene und alleinstehende Frauen. Noiva do Cordeiro ist ein kleines Matriarchat mitten in einem Land, das mit Jair Bolsonaro gerade ein Mann regiert, der mal über eine Abgeordnete sagte, sie habe es nicht verdient, vergewaltigt zu werden. Weil sie sehr hässlich sei. Ein Mann, der einmal in einem Interview gesagt hat, er hätte lieber „einen toten Sohn als einen schwulen“.
Das einzige explizite Verbot in Noiva do Cordeiro: Die Frauen dürfen keine Priester ins Dorf bringen. Die Kirche hat hier keinen Platz – und das hat seine Gründe. Einer davon hat seinen Ursprung Ende des 19. Jahrhunderts. Damals wird die Farmerstochter Maria Senhorinha de Lima mit einem reichen Bauern verheiratet. Maria aber verliebt sich in einen anderen Mann. Als Maria von ihm schwanger wird, verstoßen die Eltern sie. Die kleine Familie flieht an einen entlegenen Ort – das heutige Noiva do Cordeiro. Sie bekommen acht weitere Kinder und leben in großer Armut und abgeschnitten vom Rest der Gesellschaft. Denn auch die katholische Kirche verstößt die Ehebrecherin: Maria und alle ihre Nachkommen bis in die vierte Generation werden exkommuniziert.
In den 90ern hatten die Frauen genug vom Regime der Kirche: „Wir leben in Zukunft nach unseren Regeln“
Delina Fernandes ist einer dieser Nachkommen, eine Enkeltocher Marias. Sie ist heute das Oberhaupt der Kommune, die Matriarchin. Viele der Bewohnerinnen nennen sie einfach „Mutter“. Delina Fernandes – und das ist der zweite Grund für das Priesterverbot – hat ihre eigenen Erfahrungen mit der Kirche gemacht: Anfang der 50er-Jahre kommt ein evangelischer Priester ins Dorf der verstoßenen Familie. Er missioniert viele der Bewohnerinnen und Bewohner, errichtet eine eigene Kirche und hält um die Hand der 16-jährigen Delina an. Die beiden heiraten. 40 Jahre lang leben Delina und der Rest der Dorfgemeinschaft unter dem strengen Regime des neuen Priesters: Die Frauen werden unterdrückt, sie dürfen nur lange Haare und Röcke tragen. Radio, Fernsehen und Tanzen sind verboten.
Mitte der 90er-Jahre haben die Frauen im Dorf genug. Sie vertreiben den Priester, reißen die Kirche ab und ernennen Delina zu ihrem Oberhaupt. Delina, so erzählte sie dem „Spiegel“, verkündet damals: „Wir leben in Zukunft nach unseren eigenen Regeln.“