Die meisten Hotels von El-Arisch, einem ägyptischen Urlaubsort auf der Sinaihalbinsel, stehen schon lange leer. Dafür sind die Zellen in der dreigeschossigen Polizeistation voller Menschen. In einer davon sitzen rund 20 Flüchtlinge aus Eritrea und warten auf die Abschiebung in ihr Heimatland. Viele haben eine furchtbare Odyssee hinter sich: Sie flohen aus ihrer Heimat in den Sudan, dort wurden sie gekidnappt, in den Sinai verschleppt und von den Entführern gefoltert, um von ihren Verwandten Lösegeld zu erpressen. "Wenn niemand zahlt, wollten sie uns Organe entnehmen", sagt einer aus der Gruppe, die anderen in der Zelle nicken stumm.

Es riecht nach Urin und Schweiß. Für Kidane, einen dünnen Mann mit dem Rücken voller Narben, ist jedes Wort eine Qual: "Sie legen Strom an die Ketten, in denen die Leute liegen, sie vergewaltigen die Frauen, sie übergießen dich mit geschmolzenem Plastik. Und immer geben sie einem dabei das Telefon in die Hand, damit man die Geldforderungen nach Hause durchgeben kann." Für Kidane und die anderen wurden pro Person 40.000 Dollar Lösegeld bezahlt. Dafür wurde die Gruppe in der Nähe der Grenze zu Israel ausgesetzt, wo sie die Polizei aufgriff. Die Anführer der großen Beduinenstämme, die erstaunlich offen eine Verwicklung in den Menschenhandel einräumen, wollen von Organraub oder -handel nichts wissen. Weder Sheikh Ibrahim, eines der Oberhäupter des im Sinai mächtigen Sawarka-Stammes, noch einer der Führer des Tarabin-Stammes möchte bestätigen, dass in der Gegend Organe geraubt und verkauft werden. "Sie lügen einfach", sagt der Mann, der die Weltöffentlichkeit mit Fotos von Leichen aufrüttelte, die schwer zu ertragen waren: zugenähte Körper, manche von Maden befallen, andere einfach leer. Hamdy al-Azazy hat die NGO "New Generation Foundation for Human Rights" gegründet. Seit 2006 kümmert er sich um Flüchtlinge im Sinai. "In mobilen Kliniken werden die Organe hier entfernt", sagt der kleine, gedrungene Mann.

Am Stadtrand von El-Arisch gehen wir zu einem Massengrab vor der Mauer des Friedhofs. Ungefähr 500 Leichen unbekannter Flüchtlinge – zumeist aus Eritrea und dem Sudan – liegen dort im Sand unter dem Müll eines angrenzenden Slums. Die Menschen starben in den Händen der Menschenhändler im Sinai, die meisten durch Folter, andere verdursteten oder verhungerten. Einigen seien lebenswichtige Organe gestohlen worden, sagt Hamdy al-Azazy. Er sammelt Knochen auf, die von den Hunden ausgegraben wurden, gibt sie einer Gruppe kleiner Kinder, die sie für ein paar Cent wieder eingraben. "Viele der Körper habe ich selber in der Wüste gefunden. Einige ohne Organe." Das Problem ist: Außer ihm hat die mobilen Kliniken nie jemand gesehen. Als Beweis hat er nur die Bilder der Leichen. Viele NGOs, sowohl in Israel als auch in Ägypten, sind sich nicht sicher, ob es die mobilen Kliniken wirklich gibt.

Am illegalen Organhandel in Ägypten aber besteht kein Zweifel. Nach langem Zögern ist ein ranghoher General der Armee, der seinen Namen nicht in den Medien lesen will, bereit, über das Thema zu sprechen. Es sei die Clique eines Kairoer Arztes gewesen, die vor einigen Jahren erstmals begonnen habe, Operationen im Sinai durchzuführen. Danach wurden die Organe in Gefrierkühltruhen nach Kairo gebracht. Vereinzelt auch nach Israel, was sich auf der anderen Seite der Grenze allerdings nicht belegen lässt. Laut dem General betraf der Diebstahl aber bei Weitem nicht nur afrikanische Flüchtlinge. Auch Ägypter seien entführt worden, um ihnen ihre Organe zu entnehmen. Usama Emam, beim Geheimdienst verantwortlich für Terrorismus und internationale Schmugglerringe, bestätigt die Kenntnis des Militärs vom Organraub im Sinai. "Auch das Militär hat Körper ohne Organe gefunden." "Man muss nicht in den Sinai schauen, wenn man Organe sucht", sagt der General zum Abschied. Der Hauptumschlagplatz für Organe sei der Sinai nie gewesen. Der Ort, an dem viele Flüchtlinge ihre Organe verkaufen müssen oder sie ihnen schlicht gestohlen würden, sei Kairo – eines der größten städtischen Flüchtlingsballungsgebiete weltweit.

Seit 1976 die erste Niere in Ägypten transplantiert wurde, gibt es keine Organisation, die die Transplantationen reguliert. Der illegale Handel ließ nicht lange auf sich warten. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen werden in Ägypten 500 bis 1.000 Nieren im Jahr transplantiert. Legal, zumindest im ägyptischen Sinne. 80 bis 90 Prozent davon sind bezahlte Organe, keine altruistischen Spenden. Circa 200 Transplantationen finden komplett illegal statt, so schätzt Dr. Hamdy Sayed, Vorsitzender des ägyptischen Ärzteverbandes. Dass es bis vor einigen Jahren verboten war, Organe verstorbener Spender zu transplantieren, befeuerte den Schwarzmarkt zusätzlich.

Die in Washington und Kairo ansässige "Coalition for Organ-Failure Solutions" (COFS) betreute im letzten Jahr in Kairo 57 überlebende Opfer von Organhandel aus dem Sudan und Hunderte aus Ägypten. Die Organisation geht von wesentlich mehr Opfern aus, die ihren Weg als Flüchtlinge nach Ägypten fanden und in die Fänge der Organhändler gerieten. Die Gesamtzahl derer, die in der Vergangenheit Opfer von Organdiebstahl wurden, sieht Debra Budiani-Saberi, Gründerin der Organisation, bei mehreren Tausend. Das Wadi-El-Neel- Krankenhaus in Kairo gilt laut COFS dabei als wichtiger Umschlagplatz. Neben den immer populärer werdenden Behelfs-OP-Sälen in gemieteten Apartments.

Amr Mostafa sitzt im Kairoer Außenbezirk Heliopolis mit einem Kaffee und einem Laptop voller Videos vor sich. Er ist bei der COFS dafür zuständig, die Opfer des Organhandels aufzuspüren. Mostafa redet von den Spendern für den Organhandel, macht eine Pause, sucht ein besseres Wort – dann sagt er lieber: Opfer. Am häufigsten treibe die Geldnot die Menschen dazu, sich ausschlachten zu lassen, manchmal würden die Organe aber auch erpresst oder schlicht geraubt. Die am meisten betroffene Flüchtlingsgruppe kommt aus dem Sudan, andere Opfer kommen aus Somalia, aus Eritrea, Äthiopien, Irak und Syrien. "Die Empfänger sind häufig Ägypter, in letzter Zeit aber auch sogenannte Organ- Touristen, hauptsächlich aus den wohlhabenden Golfstaaten", sagt Amr Mostafa. Auf dem Bildschirm laufen jetzt Videos. Männer und Frauen erzählen von ihren Qualen, die Gesichter sind verpixelt, die Gespräche fanden an neutralen Orten statt. Die meisten Opfer wurden erst in Ägypten von sogenannten "Brokern" kontaktiert – Mittelsmänner, die potenzielle Spender an Ärzte vermitteln. Einige berichten aber auch, dass sie gezielt im Sudan angesprochen wurden. Man hatte ihnen Arbeit und Unterkunft in Ägypten versprochen und schmuggelte sie dann gen Norden. "Der Vermittler, der uns nach Ägypten zu fliehen half und uns Arbeit versprochen hatte, ließ uns dann bei sich wohnen. Arbeit bekamen wir nicht, sodass wir keine Miete zahlen konnten. Nach ein paar Monaten forderte er das Geld und bot mir als Ausweg an, eine meiner Nieren zu verkaufen. Was sollte ich machen?", erzählt einer. Das Geld, das ihnen versprochen wird, zwischen 5.000 und 40.000 Dollar, wird so gut wie nie voll gezahlt.

Die Menschen werden krank gemacht und zum Arzt geschickt, der prüft, ob sie als Spender taugen

Noch perfider funktioniert der Organdiebstahl. Die vermeintlichen Gastgeber sorgen dafür, dass die Flüchtlinge krank werden, schicken sie dann zu einem Arzt, der unter einem Vorwand Gewebeproben entnimmt, um zu schauen, zu welchem Empfänger das Organ passt. Wie es weitergeht, erzählt ein schmaler, kränklich klingender Mann in einem anderen Video: "Eines Tages rief mein Gastgeber den Arzt, um mir eine Spritze gegen meine Schmerzen zu geben. Als ich wieder aufwachte, war ich in einem Krankenhaus, wo man mir sagte, man werde schauen, ob man mir Gallensteine entfernen müsse." Als er das nächste Mal aufwachte, hatte man ihm eine Niere entfernt.

Amr Mostafa schüttelt traurig den Kopf vor seinem Laptop. Kürzlich hat er der Polizei wieder eine provisorische Klinik gemeldet. Ein Apartment mit einem OP-Zimmer. Dass unter solchen Umständen auch Menschen sterben, sei nicht verwunderlich. "Zahlen, wie viele im Laufe von Transplantationsoperationen sterben, gibt es aber natürlich nicht", sagt Amr Mostafa noch und verabschiedet sich ins Kairoer Verkehrschaos. In einer Wohnung im Stadtteil El-Manial trifft man Dr. Fakhry Saleh, ehemaliger Chef der Kairoer Rechtsmedizin. Seit ein paar Jahren ist er pensioniert, das alte Regime ist lange weg. Er hat nun das Gefühl, dass er reden kann. In seinem dunklen Wohnzimmer überlegt er kurz, dann sagt er: "Im Laufe meiner Karriere, seit den Achtzigern, habe ich mit Sicherheit weit über 1.000 Leichen gesehen, denen die Organe fehlten." Er sagt es ohne besondere Gefühlsregung – denn es ist nichts Außergewöhnliches in Ägypten. "Und in der Phase, in der sich das Land jetzt befindet", so Fakhry Saleh, "wird das bestimmt nicht besser werden."