Frau Hassan ist zurück
Deutschland sucht fieberhaft Lehrkräfte, Leylan Hassan fieberhaft einen Job als Lehrerin. Eine komplizierte Geschichte

Sie hält den Umschlag in den Händen. Deutschnachweise, Zeugnisse, Notenübersichten, Übersetzungen, Kopien, Beglaubigungen und: ein persönlicher Brief. Den hat die Verwaltung nicht verlangt. Geschrieben hat ihn Leylan Hassan trotzdem. Dass sie in Syrien jahrelang Lehrerin war, steht darin, wie sehr sie den Beruf geliebt hat und wie gerne sie wieder als Lehrerin arbeiten möchte, hier, in Berlin. Vielleicht überzeugt der Brief irgendwen hinter der Fassade des Gebäudes, denkt Hassan. Sie schiebt den Umschlag in den Briefkasten und lässt los.
Das ist im September 2022. Hassan, 40, erinnert sich an den Moment vor der Berliner Behörde. Ewig hat es gedauert, alle Dokumente zu besorgen. Teuer war es. Und Unterlagen einfach einzuwerfen ist nicht der übliche Weg zurück in die Schule. Aber vom üblichen Weg hat Hassan genug: Mehr als fünf Jahre ist sie damals in Deutschland, fünf Jahre, in denen sie versucht, an eine Schule zurückzukehren, aber in Beratungsstellen und auf dem Arbeitsamt wieder und wieder denselben Satz hört: „Sie werden in Deutschland niemals Lehrerin.“ Ihr syrischer Abschluss wird nicht als gleichwertig anerkannt, ihr Deutsch reiche nicht aus. „Da habe ich irgendwann gesagt: Gebt mir meine Unterlagen, ich gehe selbst zur Senatsverwaltung.“
Gut 17.300 Lehrkräfte fehlten 2024 bundesweit, Tendenz: steigend. In Sachsen-Anhalt sind die Hälfte der Neueinstellungen Seiten- oder Quereinsteiger
Während Leylan Hassan zurück an die Schule möchte, suchen die Schulen dringend Lehrerinnen und Lehrer. Laut der Kultusministerkonferenz fehlten 2024 bundesweit gut 17.300, bis 2030 würden rund 55.000 zusätzliche Kräfte benötigt. Forschungsinstitute rechnen mit einem noch viel größeren Mangel.
Der hat verschiedene Gründe. In vielen Bundesländern gehen bald besonders viele Lehrkräfte in den Ruhestand. Immer weniger Menschen fangen ein Lehramtsstudium an, und fast die Hälfte der Studierenden bricht die Ausbildung wieder ab. Auf der anderen Seite wächst der Bedarf: Durch Zuwanderung kommen Zehntausende Schülerinnen und Schüler mehr an die Schulen.
Es ist nicht das erste Mal, dass es in Deutschland zu wenige Lehrkräfte gibt. Über die vergangenen Jahrzehnte haben sich Mangel und Überangebot immer wieder abgewechselt. Um den Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern zu decken, müssen viele Faktoren berücksichtigt werden, zum Beispiel die Geburtenentwicklung, Zuwanderungsprognosen, welches Studium junge Menschen wählen und warum. Die Rechnung ist komplex und vielerorts nicht aufgegangen.
Deshalb werden viele Menschen aus anderen Berufszweigen eingestellt: Mittlerweile hat gut jede zehnte neu eingestellte Lehrkraft an Regelschulen keine klassische Lehramtsausbildung. Zwischen den Bundesländern variiert die Quote der Personen, die im sogenannten Seiten- und Quereinstieg an die Schulen kommen, stark: In Bayern geht ihr Anteil gegen null, in Sachsen-Anhalt liegt er bei über 50 Prozent.
Viele sehen gerade die hohe Zahl der Seiteneinstiege kritisch. Quer eingestiegene Lehrkräfte holen ihr Referendariat nach, Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger nicht. Es gibt keine einheitlichen Regeln, welche Qualifikation sie mitbringen müssen. Und noch keine repräsentativen Untersuchungen, welche Auswirkungen sie auf die Unterrichtsqualität haben. Selbst wenn Seiteneinsteigende fachlich gut seien, fehle ihnen womöglich pädagogisches und didaktisches Wissen, das sich Lehrkräfte sonst in Studium und Referendariat holen, so die Kritik.
Die Anerkennung fremder Abschlüsse als Lehrkraft ist schwierig: Nur 14 Prozent der ausländischen Qualifikationen werden in Deutschland als gleichwertig akzeptiert
Ein anderer Weg, dem Lehrkräftemangel zu begegnen, ist der, den Leylan Hassan gehen wollte: die Anerkennung ausländischer Abschlüsse als Lehrkraft. Laut dem Bildungsministerium ist die eher die Ausnahme: Nur 14 Prozent der ausländischen Qualifikationen werden in Deutschland als gleichwertig akzeptiert. Die Anforderungen sind hoch, manche Bundesländer verlangen ein Studium in zwei Fächern, was in vielen anderen Ländern wie Syrien oder der Ukraine nicht üblich ist. Deutsch müssen Lehrerinnen und Lehrer aus dem Ausland beherrschen wie ihre Muttersprache.
Leylan Hassan weiß, wie wichtig die Sprache ist. Seit ihrer Ankunft 2017 pauken sie und ihr Mann Deutsch, obwohl sie damals nicht wissen, ob sie in Deutschland bleiben dürfen. Neben den Sprachkursen schreibt Hassan Anträge, lässt sich beraten, versucht, Behörden zu überzeugen. „Ich habe so viele E-Mails, Anträge und Briefe geschrieben, manchmal bis Mitternacht. Ich mache meinen Laptop auf, und meine Finger schreiben von allein.“
Die deutschen Behörden kann sie verstehen. Es sei wichtig, dass es hohe Anforderungen für alle Lehrerinnen und Lehrer gibt. „Wir sind verantwortlich für sehr viele Kinder. Wir beeinflussen ihre Zukunft.“ Deutschland solle nicht die Standards heruntersetzen, sondern das System verändern. Einige Bundesländer fahren spezielle Programme für internationale Lehrkräfte. In NRW gibt es beispielsweise „Lehrkräfte Plus“, das Lehrerinnen und Lehrer mit Fluchtgeschichte innerhalb eines Jahres weiterbildet und auf den Unterricht vorbereitet. Zentral ist dabei ein Schulpraktikum. Das findet Leylan Hassan besonders gut. „Über Praktika könnten Interessierte nach ihrer Ankunft schnell an die Schulen gehen, ihr Deutsch verbessern, von den Lehrerinnen und Lehrern lernen und sie irgendwann unterstützen.“
Mehr als zehn Jahre arbeitete Hassan in der Stadt al-Hasaka, ganz im Nordosten Syriens, als Mathe- und Informatiklehrerin. An syrischen Schulen gehe es strenger zu, sagt Hassan, Lehrerinnen und Lehrer seien in der Gesellschaft sehr geachtet. „Im Unterricht darf niemand einfach sprechen, und wenn der Lehrer hereinkommt, stehen die Kinder auf.“ Ihr Schultag begann um 7.30 Uhr im Hof, wo sich Klassen und Lehrkräfte aufreihten. Montags ertönte die Nationalhymne. Ihre Unterrichtsvorbereitungen musste Hassan morgens von der Schulleitung unterschreiben lassen.
Als 2011 der Bürgerkrieg ausbrach, wollte Leylan Hassan Syrien auf keinen Fall verlassen. „Das ist unser Heimatland. Wir haben versucht, es dort auszuhalten.“ Bis 2015 der Islamische Staat (IS) die Stadt erreicht. An Newroz, dem kurdischen Neujahrsfest, explodiert eine Autobombe. Hassans Bruder wird schwer verletzt. Noch am selben Tag flieht die Familie über die Grenze in den Irak.
Zwei Jahre harren sie mit zwei kleinen Kindern in einem Zeltlager für Geflüchtete aus, bevor sie weiterkönnen, nach Deutschland. Die Jahre nach ihrer Ankunft vergehen, Hassan, ihr Mann, und die Kinder können die Gemeinschaftsunterkunft verlassen und eine Wohnung beziehen. Ihr Mann, der in Syrien Kinderkrankenpfleger war, schult auf Friseur um, und sie bekommen ihren dritten Sohn. Heute haben sie alle die deutsche Staatsbürgerschaft.
„In Syrien würde mir niemand glauben, dass ich in Deutschland noch mit Kreide unterrichte“Leylan Hassan
Wenn sie morgens in der Küche der neuen Wohnung das Frühstück vorbereitet, platziert Leylan Hassan ihr Handy auf der Fensterbank oder auf dem Tisch. Der kleine Bildschirm zeigt ihre Eltern, die per Videocall von zu Hause in al-Hasaka zugeschaltet sind. Mal sagt jemand etwas, oft auch nicht. „Meine Eltern wollen nicht die ganze Zeit reden, sie wollen ihre Enkel aufwachsen sehen“, sagt Hassan. „Sie wollen dabei sein.“ Wenn sie auflegen, sagen ihre Eltern „Tschüss“ – auf Deutsch.
März 2023. Ein halbes Jahr nachdem Hassan ihren Brief zur Behörde gebracht hat, erreicht sie eine Antwort des Senats: Sie dürfe grundsätzlich als Vertretungslehrerin an einer Grundschule arbeiten. Geeignete Stellen gebe es allerdings gerade nicht. Wieder geht Hassan den direkten Weg. Sie kontaktiert die Grundschule um die Ecke und erfährt: Dort brauchen sie Verstärkung für die Willkommensklassen.
Leylan Hassan soll Kinder unterrichten, die kein Deutsch können, in ihrem Herkunftsland nicht lesen und schreiben gelernt haben. Sie spricht Kurdisch, Arabisch, Englisch und Deutsch. Sie weiß, wie es ist, zu fliehen, wie es ist, fremd in Deutschland anzukommen und in einer Sammelunterkunft zu leben. Sie weiß, wie außerirdisch Briefe der Schulbehörden oder Materiallisten (2 Hefte A4, kariert, 7 mm, 32 Blatt) für geflüchtete Eltern klingen.
Im Sommer 2023 ist es so weit. Nach acht Jahren gibt Hassan ihre erste Mathestunde. In Klamotten, die sie in Syrien wohl nicht zur Schule getragen hätte: zu leger. Und an einer Tafel. „In Syrien würde mir niemand glauben, dass ich in Deutschland noch mit Kreide unterrichte.“
In der Pause nach ihrer ersten Stunde hält sie es nicht aus. Sie holt ihr Handy raus, 2.800 Kilometer südöstlich klingelt es bei ihren Eltern. „Es hat geklappt. Ich bin jetzt Lehrerin, in Deutschland“, sagt Leylan Hassan und kann es selbst kaum glauben.
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