Nazar steht vor der offenen Motorhaube eines Opel Zafira B, gerade hat er den Ölwechsel gemacht, jetzt baut er alles wieder zusammen. An seinen Händen klebt öliger Schmutz. Es ist ein Tag im Februar 2023, Kälte zieht durch die Ritzen der Werkstatt in Zwiefalten auf der Schwäbischen Alb. Nebelschwaden hängen draußen in den Hügeln. Zwischen den Häusern kündigen bunte Fähnchen das kommende Fasnetsfest an.
Vor acht Jahren hat der Kfz-Mechatroniker Nazar Jardo seinen Vater zuletzt gesehen. Nazar war damals 14 und seit acht Monaten in Gefangenschaft des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS). In Al-Hol, einer syrischen Stadt nahe der irakischen Grenze, stand er auf dem Dach eines Hauses und beobachtete, wie sein Vater zusammen mit 100 weiteren Männern in den Laderaum eines Lkw getrieben wurde, die Hände gefesselt. Der Lkw fuhr ab. Ob sein Vater noch lebt, weiß Nazar nicht.
Wer sind die Jesiden?
Das Jesidentum geht auf eine mehr als 4.000 Jahre alte, mündlich überlieferte monotheistische Religion zurück, beheimatet vor allem in Irak, der Türkei, Syrien und Iran. Unter anderem beinhaltet sie den Glauben an einen Schöpfergott, der aus seinem Licht sieben Engel geschaffen hat. Traditionell wird das Jesidentum vererbt, es kann nur Jesid:in sein, wer als Kind jesidischer Eltern geboren wird. In ihrer Geschichte wurden Jesid:innen immer wieder verfolgt und diskriminiert, zuletzt im Jahr 2014 durch den Genozid des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS), der die Jesid:innen als „Ungläubige“ ansieht. Die größte Diaspora der jesidischen Glaubensgemeinschaft, die weltweit etwa eine Million zählt, befindet sich mit 150.000 Mitgliedern in Deutschland.
Nazar und seine Familie gehören der jesidischen Glaubensgemeinschaft an, sie stammen aus dem Norden des Irak. Als der IS 2014 in die Region einfiel, wurden Jesidinnen und Jesiden in Massen vertrieben, getötet oder in Gefangenschaft genommen. So erging es auch Nazars Familie. Noch immer werden etwa 3.000 Jesid:innen vermisst. Nazar floh mit seiner Mutter und drei seiner acht Geschwister nach Deutschland.
Nazar hat Dinge in der Gefangenschaft erlebt, die so grausam sind, dass es ihm schwerfällt, davon zu erzählen
Nur von der Größe her ähnelt Zwiefalten dem Dorf, in dem Nazar seine Kindheit verbrachte. Er teilt sich mit seiner Mutter und drei Geschwistern eine Wohnung, etwa fünf Gehminuten von der Autowerkstatt entfernt. Im Schrank neben dem Fernseher schaut sein Vater mit ernstem Blick von einem eingerahmten Foto. An der Wand hängt die jesidische Fahne. Nazar hat sie selbst gemacht. Mittlerweile ist er 22. Um halb sechs kommt er nach Hause. Noch in Arbeitskleidung setzt er sich auf eines der Sofas im Wohnzimmer. Dann erzählt er von der Vergangenheit.
Nazar erinnert sich noch genau an den 3. August 2014, an jenen Tag, an dem seine Familie in IS-Gefangenschaft kam. Wie jeden Morgen ging er mit den Schafen und Ziegen raus auf die Weide. Sein Vater ermahnte ihn, sich nicht zu weit vom Dorf zu entfernen. Er tat es trotzdem. Plötzlich rief sein Vater an. „Er schrie, dass sie ohne mich das Dorf verlassen werden, wenn ich nicht rechtzeitig komme“, erzählt Nazar. Da sei er mit den Tieren losgerannt. Zu Hause war das Auto schon gepackt. Im Dorf erzählte man sich, der IS habe die ganze Region erobert. Sie brachen sofort auf. Doch die Straßen wurden schon vom IS kontrolliert. Bewaffnete Kämpfer stoppten die jesidischen Familien, durchsuchten ihre Autos, nahmen ihnen Handys, Geld und Zigaretten ab und brachten sie in ein Militärlager in der nahe gelegenen Stadt Sinun. Von dort wurden sie in die Stadt Al-Hol in Syrien gebracht, die vom IS kontrolliert wurde. Dort waren sie gefangen.
Nazar hat Dinge in der Gefangenschaft erlebt, die so grausam sind, dass es ihm schwerfällt, davon zu erzählen. Er schaut auf seinen Schlüsselbund. Immer wieder lässt er ihn von der einen in die andere Hand fallen. „Vor unseren Augen“, sagt er, und seine Stimme kommt ins Stocken. Er schluckt.
Zusammen mit anderen Jungs sei er auf einen Platz in der Stadt gebracht worden. Es war heiß und staubig. Dort bewachten IS-Kämpfer jene jesidischen Männer, die zum Tode verurteilt waren. Manche hatten unerlaubt ein Handy benutzt, andere Karten gespielt, es waren willkürliche Urteile, die jeden treffen konnten. Während die Männer hingerichtet wurden, mussten Nazar und die anderen Jungs zuschauen und schreien: „Allahu akbar!“, Gott ist groß. Die Angst in den Augen der Männer kann er bis heute nicht vergessen. „Sie haben so gezittert“, sagt Nazar. Er senkt den Kopf. Er atmet aus. Manchmal wacht Nazar noch heute nachts auf, nass geschwitzt wegen der Albträume.
An jenem Tag im April 2015, als sein Vater verschwand, beschlossen Nazar und seine Familie zu fliehen. Sie kletterten über die Mauern der umstehenden Häuser, um die Straße zu meiden. Als sie außerhalb der Stadt waren, versteckten sie sich am Tag und liefen in der Nacht über Felder. Es war heiß, sie hatten kein Essen und kaum Wasser. Mehrere Tage waren sie unterwegs. Sie entkamen nur mit Glück den IS-Kämpfern. Als sie kurdisch kontrolliertes Gebiet erreichten, brachte ein Fahrer sie in ein Lager für Geflüchtete.
„In meiner Familie sagen alle, es war der schönste Moment, als wir freikamen. Ich denke, es kann nicht der schönste gewesen sein, weil mein Vater nicht dabei war“
Von dort gibt es ein Foto, das Nazars Bruder Sarbast auf seinem Handy zeigt. Es ist ein Gruppenporträt der Familie, sie stehen vor einem Baum. Nazar blickt nur kurz darauf. „In meiner Familie sagen alle, es war der schönste Moment, als wir freikamen. Ich denke, es kann nicht der schönste gewesen sein, weil mein Vater nicht dabei war.“
Im Sommer 2015 kamen Nazar und seine Familie nach Zwiefalten. Mit einem Sonderkontingent wurden insgesamt 1.100 Jesiden, überwiegend Frauen und Kinder, nach Baden-Württemberg geholt. Nazar staunte über die Landschaft, die so anders aussah, über Wiesen und Bäume. „Alles war so grün, das kannten wir aus dem Irak gar nicht“, erinnert er sich. Als er 2018 seinen Hauptschulabschluss machte, war er Klassenbester. Er entschied sich dafür, Kfz-Mechatroniker zu werden. Nazar mag seine Arbeit in dem schwäbischen Familienbetrieb. Sein Chef sagt, er sei jeden Tag froh, ihn zu haben. Als Nazar vor einem Jahr seine Kfz-Lehre abschloss, wurde er sofort übernommen.
An einen Tag während der Ausbildung erinnert sich Nazar noch genau: Damals stieg er aus dem Bus und bemerkte, dass sein Handy weg war. Er suchte es unter den Sitzen, fragte ein paar der Kinder aus dem Bus. Doch die, die genau hinter ihm gesessen hatten, waren schon weg. „Ich glaube, sie haben mein Handy gestohlen.“ Darauf war seine Vergangenheit in 10.000 Bildern gespeichert. Auch die Fotos von seinem Vater.
Im Februar wird in Zwiefalten Fasnet gefeiert – so heißt das Karnevalsfest auf der Schwäbischen Alb. Die Hauptstraße ist schon für den Umzug gesperrt, bald werden hier Narren, Hexen, Teufel und Trolle im Wechsel mit Bläsergruppen herunterziehen.
Nazar trägt einen Cowboyhut und eine Spielzeugpistole. Er hält sie einem Mann vor die Brust, beide lachen und begrüßen sich. „Wieso läufst du nicht als Winkeseckel mit?“, fragt Nazar den Mann. „Winkeseckel“, schwäbisch für winkender Idiot, werden im Ort scherzhaft die Vorsitzenden des Fasnachtsvereins genannt, die grüßend durch die Straßen ziehen. „Weißt du überhaupt, was ein Seckel ist?“, lacht der Mann.
Letzte Nacht hat Nazar nicht von seinem Vater geträumt. Die Träume, in denen sein Vater vorkommt, sind keine Albträume. „Ich finde es schön, ihn zu sehen.“ Letztes Jahr, im Oktober 2022, kehrte Nazar mit seiner Schwester zum ersten Mal seit der Flucht wieder in den Irak zurück. Am Anfang war es schrecklich, die Erinnerungen an seinen Vater kamen hoch. Zurück in Deutschland, musste Nazar ständig an das Dorf denken, zum Glück lenkte die Arbeit in der Werkstatt ihn ab. „Ich glaube daran, dass er irgendwann zurückkommt“, sagt Nazar.
Einer von Nazars Neffen wurde vorletztes Jahr nach seinem Vater benannt. Er heißt Naif.