Vor einem Jahr stand Lina Attalah vor dem berüchtigten Al-Aqrab-Gefängnis, in dem schon viele Regimekritiker gefoltert wurden. Die 38-jährige Journalistin war dort zusammen mit der Mutter eines Inhaftierten, um über die Familien von Gefangenen zu schreiben. Doch plötzlich wurde sie selbst zur Gefangenen. Die Polizei nahm sie für einige Stunden fest und ließ sie dann auf Kaution wieder frei.
Es war nicht das erste Mal, dass Attalah die Staatsmacht zu spüren bekam. Bereits 2019 stürmten Polizisten die Redaktion des Onlinemagazins „Mada Masr“, dessen Chefredakteurin Attalah ist. Zusammen mit zwei Kollegen landete sie damals in Gewahrsam. Der Grund: ein kritischer Artikel über den ältesten Sohn des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, der das Land seit 2014 zunehmend diktatorisch regiert. Oppositionelle werden verfolgt, die Presse unterdrückt. Das Onlinemagazin „Mada Masr“ ist eines der letzten unabhängigen Medien in Ägypten. Das macht die investigative, regimekritische Journalistin Attalah zur Staatsfeindin. Ob sie Angst habe? „Klar, die ganze Zeit“, sagt sie. Und dennoch denkt sie nicht ans Aufhören.
32 Journalistinnen und Journalisten sitzen in Ägypten im Gefängnis. Ihr Vergehen: Kritik an der Regierung
Auch in Ägypten fanden die Proteste des Arabischen Frühlings statt, die zwar zu zahlreichen Regierungswechseln führten – aber nicht immer zu mehr Demokratie. In Ägypten war der 25. Januar 2011, der „Tag des Zorns“, ein ausschlaggebender Moment: Geschätzt Zehntausende Menschen, darunter viele Jugendliche und Studierende, protestierten in Kairo für die Absetzung des Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak. Nach seinem Rücktritt hofften viele auf mehr Freiheit und bessere Lebensbedingungen. Doch bei der Parlamentswahl gewann der Kandidat der Muslimbrüder, die Ägypten in einen islamistischen Staat verwandeln wollten. Erneut kam es zu gewalttätigen Protesten, die mit einem Militärputsch endeten, angeführt von Abdel Fattah al-Sisi. Ein Jahr später wurde er zum Präsidenten gewählt.
Seitdem wurde gegen zahlreiche Menschenrechte verstoßen. Der Staat lässt politische Gefangene foltern und hinrichten, die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten wurde zunehmend schwerer. Auf der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit 2021 der Nichtregierungsorganisation (NGO) Reporter ohne Grenzen liegt Ägypten von 180 Ländern auf Platz 166. Aktuell sind 32 Journalisten in Haft.
Als auch die Zeitung „Egypt Independent“, bei der Attalah leitende Redakteurin war, kurz vor dem Staatsstreich 2013 schließen musste, gründete sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen „Mada Masr“. „Gerade damals war Journalismus besonders wichtig, und ich hatte keine Lust darauf, arbeitslos zu sein“, erinnert sie sich. „Mada Masr“ berichtet über den Kampf der Opposition, über die Unterdrückungsmaßnahmen und über verbotene Themen wie die LGBTQ-Community. 2017 führte das zur Sperrung der Seite. Wer in Ägypten lebt, erreicht „Mada Masr“ nur über ein VPN-Programm, das den Datenverkehr über das Ausland lenkt. Nicht nur „Mada Masr“ ist von der Zensur betroffen. Der Nachrichtenkanal „Al Jazeera“ und die arabische Seite der „Huffington Post“ sind wie Hunderte andere journalistische Angebote nicht mehr aufrufbar.
Trotz der ständigen Rückschläge setzen sich die Redakteurinnen und Redakteure von „Mada Masr“ weiterhin für die Pressefreiheit in ihrem Land ein. „Jede Geschichte, die wir veröffentlichen, soll zu Gesprächen führen“, sagt Attalah. „Gerade jetzt gibt es hier nicht genügend kritische Diskurse. Das ist es, was uns antreibt – trotz aller Probleme.“
Titelbild: David Degner