Mitten in der Nacht, um halb fünf, habe ich es plötzlich an der Tür hämmern hören. Laute Rufe, Gebrüll, alle schrien durcheinander: „Mach auf!“ Ich bin sofort aus dem Bett gesprungen, weil ich Angst hatte, dass mein zweijähriger Sohn wach wird. An der Tür erkannte ich in der Dunkelheit erst einmal nur die Maschinengewehre, dahinter dann circa acht bis zehn maskierte Männer, die in meine Wohnung eindrangen und mich auf den Boden drückten. Einer der Uniformierten setzte sich auf meinen Rücken, um mich zu fixieren. Während ich am ganzen Körper zitterte, schoss mir nur ein Gedanke durch den Kopf: „Das ist hier wie in einem schlechten Actionfilm.“
Es war ein schockierender Moment, als die Antiterroreinheit in meine Wohnung in Istanbul eindrang. Natürlich wusste ich um die schwierige politische Situation für Journalisten in der Türkei, doch ich konnte nicht glauben, dass es mich trifft. Auf dem Polizeirevier beschuldigte man mich, eine deutsche Agentin und Terroristin zu sein. Da wusste ich, dass ich nichts mehr unter Kontrolle hatte und nun andere über mein Leben bestimmten. Ich durfte auch weder meine Familie noch einen Anwalt anrufen.
„Menschen, die den Staat kritisieren, gelten in der Türkei schnell als Terroristen“
Meine Festnahme war Ende April 2017. Ein Jahr zuvor gab es in der Türkei einen Putschversuch, woraufhin im ganzen Land der Ausnahmezustand verhängt wurde. Nur sehr wenige türkische Medien wagten noch, kritisch über den Staat zu berichten. Dazu gehörte auch die Nachrichtenagentur Etha, für die ich damals arbeitete. Viele meiner Kollegen und Kolleginnen wurden eingeschüchtert oder verhaftet. Menschen, die den Staat kritisieren, gelten in der Türkei schnell als Terroristen. Das Antiterrorgesetz ist sehr weit interpretierbar, es reicht schon, wenn man eine staatskritische Meinung auf Facebook teilt oder likt.
In meiner Anklageschrift konnte man mir nichts Verbotenes nachweisen. Ich hatte an vier öffentlichen Veranstaltungen teilgenommen – an manchen als Journalistin, an anderen, wie einer genehmigten Demo für Frauenrechte, als private Person. Zudem lag das alles schon vier Jahre zurück. Für die Anklage gegen mich bezeichnete der Staat die Veranstaltungen im Nachhinein als illegal.
Zwei Monate vor mir wurde der Journalist Deniz Yücel, der damals für die „Welt“ berichtete, festgenommen. Einen Monat nach mir der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner und neun seiner Kollegen. Es war der Tiefpunkt der deutsch-türkischen Beziehungen. Deshalb wusste ich auch, dass mir mein deutscher Pass nicht helfen würde, vielleicht sogar eher von Nachteil war. Die Türkei informierte die deutsche Botschaft zunächst auch nicht, dass eine deutsche Staatsbürgerin im Untersuchungsgefängnis sitzt. Ich war bereits zehn Tage in Haft, als die Öffentlichkeit von meinem Fall erfuhr. Und da begann ich natürlich, auf Unterstützung zu hoffen – auch aus Deutschland.
Die Mitarbeiter der deutschen Botschaft berichteten mir von den Demonstrationen, Mahnwachen und Autokorsos, die für mich in Deutschland stattfanden. Das hat gutgetan in der kleinen Welt im Gefängnis. Am Anfang waren meine Familie und meine Freunde zuversichtlich, dass ich sehr bald freigelassen werde. Vor allem, weil ich ein Kind habe und nichts wirklich Relevantes gegen mich vorlag. Aber nach fünfeinhalb Monaten Haft bekamen wir mehr und mehr Angst. Denn wenn – wie in der Türkei – so viele Menschen tagtäglich inhaftiert werden, kannst du im Gefängnis schnell in Vergessenheit geraten. Du bist eben nur eine von Zehntausenden.
„Nach sechs Monaten Haft begann der erste Prozesstag. Mir wurde klar, dass ich nur ein winziger Spielball war“
Ich habe mir mit etwa 16 bis 18 Frauen eine Zelle geteilt. Als ich erfuhr, dass es meinem Sohn psychisch schlecht ging, entschloss ich mich, ihn zu mir ins Gefängnis zu holen. Ich wollte nicht, dass er ohne seine Mutter aufwächst. Mit Serkan ist die Zeit dann viel schneller vorübergegangen, auch für meine Mitinsassinnen. Kinder sind genau das Gegenteil der Gefängniswelt. Sie sind fröhlich und halten sich nicht an Regeln.
Nach sechs Monaten Haft begann der erste Prozesstag. Mir wurde klar, dass ich nur ein winziger Spielball war und große Mächte über mich entschieden. Die Türkei hat sich ja damit gebrüstet, dass sie drei deutsche Agenten gefasst hatte. In der Zeitung stand auch, dass die Staatsanwaltschaft für mich bis zu 25 Jahre Haft forderte.
Es war ein Schauprozess, der in einem Gerichtssaal auf dem Gefängnisgelände stattfand. Errichtet, um vermeintliche Putschisten zu verurteilen. Ich hatte mich entschieden, eine lange Verteidigungsrede zu halten. Ich wollte das Unrecht anprangern, das mir widerfahren war. Für die Öffentlichkeit, die Presse und auch für mich. Es war ein schmaler Grat: Bin ich jetzt mutig und riskiere es? Oder bin ich eher zurückhaltend und hoffe auf eine Chance? Ich entschied mich fürs Risiko. Weil ich wusste, dass meine Freilassung nicht allein von der Entscheidung der Richter abhing. Zahlreiche Menschen, die sich mit mir solidarisch erklärt hatten, stärkten mir den Rücken. Deshalb wollte ich mich nicht verbiegen. Allerdings gab es auch viele, die sich in den Sozialen Medien negativ über mich äußerten. Die türkische Presse hatte mich tagtäglich als Terroristin und deutsche Agentin beschimpft, und das fand bei vielen regierungstreuen Menschen Gehör.
Mesale Tolu wurde am 18. Dezember 2017 nach dem zweiten Verhandlungstag freigelassen, aber nicht freigesprochen. Seither wird der Prozess immer wieder vertagt. Seit 2017 gab es im Verfahren keine neuen Beweise oder Erkenntnisse. Dennoch könnte das Gericht eine Strafe von bis zu 25 Jahren Haft verhängen. Seit Ende August 2018 lebt Tolu wieder in Neu-Ulm (Bayern), wo sie im Juni 2019 ein crossmediales Volontariat bei der „Schwäbischen Zeitung“ begonnen hat.
Bis heute hat sich die politische Situation in der Türkei nicht verbessert. Die Zeit nach dem Putschversuch 2016 war erst der Beginn: Die Regierung verbot viele Medien, nahm Journalisten die Akkreditierung ab, sperrte sie in Gefängnisse und verurteilte sie zu jahrelanger Haft. Die Zahl der inhaftierten Kollegen in der Türkei ist eine der höchsten der Welt. Während meiner siebeneinhalbmonatigen Haft habe ich mir immer wieder bewusst gemacht, dass ich nicht die Einzige bin. Das hat mir sehr geholfen. Zu wissen, dass es Zehntausende Menschen gibt, die mindestens das Gleiche erlebt haben. Ich war mit Frauen inhaftiert, die seit 20 Jahren im Gefängnis sitzen. Vor ihnen über das eigene Schicksal zu klagen hätte mich beschämt. Diese Menschen sind trotz der staatlichen Repressionen und der Gewalt stark geblieben. Das hat mich darin bestärkt, mich nicht kleinmachen und einschüchtern zu lassen. Denn genau das will der Staat.
Natürlich hat mich die Zeit im Gefängnis verändert. Ich bin nicht mehr diese unbekümmerte Frau, die ich mal war. Ich bin selbstbewusster geworden. Und wenn ich heute sehe, dass Unrecht geschieht, mische ich mich ein.
Titelbild: Reuters/picture alliance