Küssen, Umarmen, ja womöglich richtiger Sex: Das alles waren Anblicke, vor denen ich in meiner Kindheit unbedingt geschützt werden musste. Ich erinnere mich daran, wie uns die Erwachsenen aus dem Zimmer schickten, wenn so etwas in einem Film vorkam. Szenen wurden vorgespult, man legte uns die Hände vor die Augen oder bat uns, sie zu schließen. Natürlich hatte ich es drauf, so zu tun, als sähe ich nichts, wobei ich in Wirklichkeit durch einen schmalen Schlitz spähte. Heute hat sich das alles ein wenig entspannt, aber Gefühle füreinander in der Öffentlichkeit zu zeigen ist immer noch nicht gern gesehen.
Gegenseitige Zuneigung oder intimes Miteinander – beides sehe ich hier ständig, und ich finde es schön: Pärchen, die Händchen halten oder sich küssen, Umarmungen zur Begrüßung, Küsse auf den Mund oder die Wangen, das alles ist hier selbstverständlich. Für mich ist es ein Wunder. So etwas gibt es Ghana nicht, auch wenn es von keinem Gesetz verboten wird.
Zwei Männer, die Hand in Hand durch die Straßen gehen, und niemand stört sich daran. Versucht das mal in Ghana
Ich habe meine Eltern nie beim Küssen gesehen. Ich weiß bis heute nicht, ob sie es überhaupt tun. Ich glaube, ich frage sie mal, wenn ich zurück bin. Das wird wahrscheinlich das seltsamste Gespräch, das ich je mit ihnen geführt habe. Ich bin mir sicher, dass sie sich lieben, aber sie haben es sich nie gezeigt, zumindest nicht in der Gegenwart von uns Kindern.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, ob meine Eltern mich je geküsst haben. Wenn, dann muss ich so klein gewesen sein, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Zwei Männer, die Hand in Hand durch die Straßen gehen, und niemand stört sich daran. Versucht das mal in Ghana. Die Leute würden einen anstarren und böse Kommentare abgeben. Ich weiß, dass es auch hier leider viel zu viele Fälle gibt, in denen Schwule beleidigt oder sogar körperlich angegangen werden – aber glaubt mir, es ist etwas anderes, wenn der Großteil deiner Mitmenschen denkt, dass es sich bei Homosexualität um eine Krankheit handelt. Und das sind nicht nur die Alten, die Verbohrten. Etliche Male habe ich manche meiner Freunde beteuern hören, es sei nicht schwul gemeint, wenn sie einem anderen Mann Komplimente machten. Sie wollen nicht, dass ihre Heterosexualität in Frage gestellt wird.
Auch wenn man seine Freundin in der Öffentlichkeit küsst, wird einen jemand daran erinnern, dass man das zu Hause machen soll. Gefühle gehören ins Schlafzimmer, Punkt. Wer das nicht beherzigt, gilt als hoffnungslos beeinflusst von der westlichen Kultur. Nach den vergangenen Wochen inmitten all dieser küssenden und umarmenden Menschen hier muss ich sagen: In meinem Fall haben sie womöglich recht.
Agomo Atambire ist 27 Jahre alt und kommt aus Ghana, wo er in der Hauptstadt Accra Biotechnologie studiert hat. Zurzeit absolviert er ein sechswöchiges Praktikum in der Redaktion von fluter. Anschließend möchte er seinen Master machen, eventuell auch in Deutschland.
Teil 1: Ein Mann sieht grün – Über Bäume, Pflanzen und CO2
Teil 2: Hartes Brot – Verwunderung über Essgewohnheiten
Teil 3: Wer raucht das schon – Ärger über zu viel Zigaretten
Teil 4: Hier war der Terror – allgegenwärtige Nazizeit
Teil 6: Korrekt gefeiert – Über Festivals, Müll und Dreadlocks
Übersetzung: Oliver Gehrs
Foto: Leon Reindl