Es war zu spät, als mein Stiefvater mich von der Steckdose wegriss, und so fiel der Moment, in dem er mich packte, mit dem Schmerz zusammen. Es war, als träte mir jemand mit voller Wucht in den Hintern, ein Tritt, den ich bis in den Hals und in meine Hände fühlte. Fest davon überzeugt, dass dies mein Stiefvater getan hatte, schleuderte ich ihm die größte Beleidigung entgegen, die mir einfiel: „Geh weg, du bist nicht mein richtiger Vater.“
Ich war vier, man hatte mir gerade erzählt, dass ich ein Geschwisterchen bekommen würde, und erklärt, dass dieses Geschwisterchen von meinem Stiefvater gezeugt worden sei. Ich sei von einem anderen Mann gemacht, aber das solle mich nicht weiter beunruhigen, denn man habe mich genauso lieb, wie man auch bald den Bruder oder die Schwester lieben würde. Ich hatte rein gar nichts verstanden, aber ich hatte gespürt, dass es sich bei dieser Sache um etwas handelte, das offensichtlich meinen Eltern sehr wichtig war. Eindringlich hatten sie mir immer wieder versichert, dass mein Stiefvater mich so lieben würde, als sei ich sein eigenes Kind.
Eine Beleidigung wie eine Bombe
Und tatsächlich, meine Beleidigung schlug ein wie eine Bombe. Erstaunt sah ich, dass mein Stiefvater sich an den Tisch setzte und sein Gesicht in den Händen verbarg. Das hatte ich nicht gewollt, was hatte ich eigentlich gesagt? Noch Wochen danach konnte mich mein Stiefvater nicht in den Arm nehmen.
Ich war elf Jahre alt, da kam er mich besuchen, mein „richtiger Vater“. Ich war so aufgeregt, dass ich schon Stunden vorher an der Straße vor unserer Einfahrt stand. Hier wird er ankommen, hier wird er langgehen, dachte ich. Als er dann kam, versteckte ich mich im Garten und beobachtete von dort aus, wie er aus seinem Auto ausstieg und zu unserer Haustür ging. Mein Vater – das stellte ich mit Erstaunen fest – sah mir ähnlich. Das war ein komisches Gefühl, denn mein Stiefvater und meine Schwester sahen wirklich ganz anders aus als ich.
Nachdem meine Mutter, mein Stiefvater, meine Schwester und ich mit ihm Tee getrunken hatten, ließen sie mich mit meinem Vater allein. Er bemühte sich um mich, und das erstaunte mich, denn meine Mutter hatte immer behauptet, mein Vater würde sich nicht für mich interessieren. Er hatte mir einen Kassettenrecorder mitgebracht und spielte mir Gedichte von Heinrich Heine vor: „Sie liebten sich beide, doch keiner / Wollt’ es dem andern gestehn; / Sie sahen sich an so feindlich, / Und wollten vor Liebe vergehn.“ Nach jeder Strophe stoppte er die Kassette und fragte mich, ob mir das denn gefalle und ob ich verstanden habe, was der Dichter damit meine. Ich war noch zu klein für Heine und seine Liebesangelegenheiten und schämte mich furchtbar beim Zuhören. Wie erleichtert war ich, als meine Mutter ins Zimmer kam und uns vorschlug, spazieren zu gehen.
Auf diesem Spaziergang haben sich mein Vater und meine Mutter dann gestritten. Sie hatten sich mehr als zehn Jahre nicht gesehen, aber es war ihnen offensichtlich leichtgefallen, an damals geführte Gespräche wieder anzuknüpfen. Mir wandte sich mein Vater erst vor der Haustür wieder zu – um sich zu verabschieden. Ein weiterer Besuch wurde nicht erwähnt. Als er gegangen war, nahm meine Mutter mir den Kassettenrecorder weg mit den Worten: „Dein Vater denkt, damit könne er sich bei dir einschleimen, nachdem er sich fast elf Jahre nicht hat blicken lassen. Entsetzlich, dass du darauf reinfällst.“
Das Glück, beim Stiefvater aufgewachsen zu sein
Nach diesem Besuch hörte ich nichts mehr von meinem Vater. Er hatte zwar noch mehrmals angerufen, aber meine Mutter hatte mich nie mit ihm sprechen lassen. Er hatte ohnehin kein Recht mehr, Kontakt mit mir aufzunehmen, seitdem mein Stiefvater mich adoptiert hatte.
Inzwischen weiß ich vieles, auch, dass ich Glück gehabt habe, bei meinem Stiefvater aufgewachsen zu sein, denn mein Vater kann sich um niemanden kümmern und hat es ja auch nie getan. Er hat meine Mutter mit dem Baby einfach alleingelassen und ist im weiteren Verlauf seines Lebens vor jeder Verantwortung geflohen.
„Ich bitte dich um eins, Rebecca: Frag die anderen nicht, was du tun sollst. Sie sehen diese Dinge anders als wir.“
Trotzdem habe ich ihn und nicht meine Eltern angerufen, als ich aus einem Seminar an der Uni kam und völlig verzweifelt war. Es war mir nämlich in diesem Seminar klargeworden, dass auch das fünfte Studium nicht das war, wonach ich gesucht hatte. Weinend stand ich in einer Telefonzelle und fragte ihn, ob ich weiter studieren solle oder nicht. Mein Vater sagte, dass er darüber nachdenken wolle, dass ich aber wissen müsse, ganz gleich, wie ich mich entscheide, dass er und ich nicht für ein Biedermeierleben gemacht seien. Ein Biedermeierleben. Er und ich. Er hatte das ganz selbstverständlich gesagt, ohne jede Spur von Zweifel. „Ich bitte dich um eins, Rebecca: Frag die anderen nicht, was du tun sollst. Sie sehen diese Dinge anders als wir.“ Mit den anderen meinte er meine Freunde und vor allen Dingen meine Familie.
„Es war der Mann, der sich am anderen Ende des Biergartens im Kellneroutfit mit nur einer Pobacke auf einen Stuhl setzte – so wie ich immer.“
Die Sehnsucht zu wissen, wer man ist und woher man kommt, ist eine der stärksten Sehnsüchte überhaupt, stärker noch als die Sehnsucht nach Liebe. Ich hatte die Liebe meiner Eltern riskiert, als ich gleich nach meinem 18. Geburtstag nach München gefahren bin, um meinen Vater zu besuchen. Dass ich mit ihm Kontakt haben wollte, haben mir meine Mutter und mein Stiefvater lange übel genommen. Am Abend in München angekommen, gab mir seine damalige Freundin die Adresse eines großen Biergartens, in dem er kellnerte. Ich betrat den Biergarten und erkannte den Mann, den ich vor sieben Jahren nur ein einziges Mal gesehen hatte. Es war ganz leicht, es war der Mann, der sich am anderen Ende des Biergartens im Kellneroutfit mit nur einer Pobacke auf einen Stuhl setzte – so wie ich immer. Meine Mutter und mein Stiefvater haben dafür gesorgt, dass ich meine Hausaufgaben mache und mir die Zähne putze, sie haben Ausflüge und Reisen mit mir gemacht, mit mir geschimpft und gelacht. Durch meinen Vater fand ich zu mir selbst.
Eine lange vermisste Vertrautheit
In der Gegenwart meines Vaters fielen meine Hemmungen ab, denn mein Vater lacht wie ich – und fragt nicht, wie meine Mutter, ob ich nicht leiser lachen könnte. Mein Vater hat immer Lust, zu erzählen und etwas erzählt zu bekommen, nie höre ich von ihm, ob ich nicht still sein könne. So still wie meine Schwester. Mein Vater liebt kalten Kaffee, bekommt leicht Schluckauf und ist ungeduldig – wie ich.
Vor ein paar Jahren war er in Berlin, eine befreundete Filmproduzentin hatte ihn zu einer Filmpremiere eingeladen. Doch schon um 21 Uhr stand er in seinem Anzug vor meiner Tür, er war aus dem Kinosaal geflohen und fragte mich, ob ich mit ihm essen gehen würde.
Bei Hummus und Tee gestand er mir, dass er einen seltsamen Tick habe, über den er noch nie mit jemandem gesprochen habe. Er könne keine neuen Filme sehen, denn er fürchte sich davor, dass ihm der Film nicht gefallen könnte. Der Tick sei so stark, dass er praktisch nie mehr ins Kino gehe.
„Glaubst du, ich bin nicht normal, Rebecca?“, fragte mich mein Vater.
„Dann wäre ich es auch nicht“, sagte ich ihm, „denn mir geht es ganz genauso.“
Mein Stiefvater hat das getan, was ein Vater tun sollte. Er ist ein besserer Mensch als mein Vater, ich habe mehr Zeit mit ihm verbracht, er kennt mich. Umso mehr schäme ich mich, dass ich in der Gegenwart meines Vaters eine viel größere Vertrautheit spüre. Eine Vertrautheit, die ich in meiner Kindheit immer vermisst habe.
Rebecca Niazi-Shahabi lebt in Berlin und stammt aus einer deutsch-iranisch-israelischen Familie. Sie ist Schriftstellerin und Werbetexterin.
Titelbild: Jon Uriarte
In seiner Fotoarbeit „Album“ widmet sich der Fotograf Jon Uriarte einem Thema, das die Fotografie schon seit ihren Anfängen beschäftigt, das aber lange den Amateuren überlassen wurde: Familienalben. Allerdings ist er dabei etwas kopflos vorgegangen – und hat den Personen die Schädel wegretuschiert. So möchte er alltägliche Bilder ihrer Selbstverständlichkeit berauben und uns mit einer neuen visuellen Dimension vertraut machen: der gesichtslosen Erinnerung an die eigene Vergangenheit.