Vorbei an Gräbern und Mausoleen laufen die Kinder zum Unterricht – denn ihre Schule liegt dort, wo die Toten ruhen. Sie malen, singen und lernen zusammen mit ihrer Lehrerin Joharra, umgeben von klobigen Grabmälern auf dem größten Friedhof der Philippinen.
Auf dem Manila North Cemetery teilen sich etwa 6.000 Lebende ihren Wohnraum mit einer Million Toten. So knapp ist der Platz in der Großstadt. Trotz täglicher Bestattungen – an Sonntagen bis zu 100 – spielt sich der Alltag der Bewohner hier ab: Arbeiten, Freunde treffen, Geburtstage feiern, zur Schule gehen.
Ganz in Ruhe lernen: Mittlerweile gibt es auf dem Friedhof sogar einen Kindergarten mit Vorschule
In kaum einer Stadt leben Menschen so dicht gedrängt wie in Manila. Schätzungsweise tummeln sich mehr als 20 Millionen Menschen in der Metropolregion der philippinischen Hauptstadt auf einer Fläche, die deutlich kleiner ist als Hamburg. Aus den häufig perspektivlosen ländlichen Regionen zieht es die Menschen seit Jahren in die Metropole, im Gepäck oft nicht mehr als die Hoffnung auf ein besseres Leben. Häufig haben sie keine andere Wahl, als in einem der Slums unterzukommen, die selten Platz für Neuankömmlinge bieten.
So weichen manche auf den Friedhof im Norden der Stadt aus. Statt in klapprigen, aus Wellblech, Plastik und Planen zusammengeflickten Hütten können sie in einem Mausoleum wohnen. Die klotzigen Betonbauten bieten Schutz vor Wind und Wetter, zudem ist die Miete günstig (0 Euro). Denn meist sind die Bewohner gleichzeitig für die Pflege der Mausoleen verantwortlich und werden daher von den Besitzern toleriert.
„Gäbe es keinen Tod, könnten wir nicht überleben“
An die marmornen Grabmäler, die im Schlaf- und Wohnzimmer aus dem Boden ragen, haben sich die Menschen längst gewöhnt und sie zu Betten umfunktioniert. Was für manchen Besucher makaber wirken kann, ist für sie Normalität; verständlich, wenn man, wie einige, sein ganzes Leben hier verbracht hat. Denn schon seit den 1950er-Jahren wird der Friedhof von lebenden Menschen besiedelt.
Auch wenn sich der North Cemetery seitdem zum Wohnviertel entwickelte, die Lebensbedingungen bleiben weit unter akzeptablen Standards. Fließendes Wasser gibt es nicht, lediglich eine Handvoll öffentlicher Brunnen. Eines der größten Probleme: das fehlende Abwassersystem. Toiletten sind auf dem Friedhof daher nicht vorhanden.
Wie überall in Südostasien singen die Leute gerne Karaoke, wie fast überall auf der Welt spielen Kinder Videospiele und surfen im Netz. Den Strom dafür liefern meist angezapfte Leitungen. Zwischen Gräbern trällern die Menschen in provisorischen Karaokebars, während die Jugendlichen im Internetcafé des Friedhofs hocken und YouTube schauen.
Kambal hingegen züchtet Renntauben, ein beliebter Zeitvertreib auf den Philippinen. „Die Tauben sind unsere Quelle des Glücks, besonders wenn es Rennen gibt“, sagt er und führt stolz die Flügel seiner Lieblingstaube vor. Bei diesen Rennen legen die Brieftauben auf dem Weg nach Hause Hunderte Kilometer zurück. Mit bis zu 10.000 Pesos (rund 170 Euro) Einsatz wetten die Züchter darauf, dass eine ihrer Tauben als Erste ankommt. Wenn er gewinnt, kauft Kambal als Erstes Futter für seine Zöglinge.
Kambal Cabaña züchtet Renntauben. Die Rasse, die ursprünglich in Belgien und England entwickelt wurde, wird heute auf der ganzen Welt eingesetzt um Rennen zu fliegen
Bis heute ist der Friedhof für die Bewohner Hauptarbeitgeber. „Gäbe es keinen Tod, könnten wir nicht überleben“, sagt Grabpfleger Zasho, der seit seiner frühen Kindheit hier lebt. Für das Bewachen, Säubern und Anstreichen bekommt er im Jahr umgerechnet drei bis sechs Euro pro Grab. Wenn Familien nach Ablauf eines Fünfjahresvertrages die Kosten nicht mehr tragen können, werden die Gräber ausgehoben und die Gebeine den Angehörigen überreicht.
Er scheint zufrieden mit dem Leben auf dem Friedhof, nur sei das Einkommen nie gewiss. Womit er hingegen fest rechnen kann, ist Allerheiligen, für ihn die beste Zeit im Jahr. Der Feiertag wird auf den Philippinen als Tag der Toten gefeiert, und so statten viele Familien ihren Verstorbenen einen Besuch ab. Das bedeutet für Zasho: Arbeit und Einkommen, denn dann bitten ihn besonders viele Hinterbliebene, das Grab zu säubern und zu pflegen.
Ihr Leben mit den Toten wird lediglich toleriert, legal ist es nicht, und so müssen sie stets mit Zwangsräumungen rechnen. Der North Cemetery ist ein öffentlicher Friedhof und wird von der Stadt verwaltet. Immer wieder hat sie Vorstöße unternommen, um die Bewohner umzusiedeln. Doch diese berufen sich auf ihre „Grabpflege-Verträge“, die sie mit den Familien geschlossen haben und die das Wohnen auf den Gräbern erlauben. Hätten die Bewohner die Möglichkeit, wären viele wohl schon längst freiwillig weggezogen.
Seit ein paar Jahren lebt Christian offen schwul, was nicht immer leicht für ihn ist. Er träumt davon, seine Familie aus der Armut zu holen
Auch Christian, 15 Jahre alt, möchte weg: „Nachts denke ich immer darüber nach, wie wir dem Nordfriedhof entkommen können“, erzählt er. Er versucht, einen besonders guten Schulabschluss zu schaffen, und schuftet nebenbei hart. Die frühen Morgenstunden vor dem Unterricht verbringt er mit Putzen und Wasserholen, um die Familie finanziell zu unterstützen. Wegkommen, der Misere und den Toten für immer den Rücken kehren – davon träumen viele. Vor über 20 Jahren appellierten die Bewohner an den Bürgermeister, eine staatliche Schule, Sanitäranlagen und eine Kirche zu errichten. Auf eine Antwort warten sie bis heute.