Es ist zehn Uhr morgens, und alle Schießstände sind besetzt. Aber keine Sorge, hier kommt jeder an die Reihe. Nach drei Runden Zirkeltraining hat man das Recht auf einen Schuss. „Oder auch auf mehr. Wenn du kannst, mach das ganze Kaliber leer.“ Trainer und Ex-Elitesoldat Eitan Cohen lacht und lädt die Waffe nach.
„Nächster! Wer ist der Nächste?” Ein Mann, der gerade noch Liegestütze gemacht hat, hechtet aus der ersten Reihe mit einem Satz nach vorne. Seine Kippa rutscht ihm dabei vom Hinterkopf. Er hebt sie auf, gibt ihr einen Kuss und eilt zu Eitan. „Mach schon, na komm!“, ruft dieser ungeduldig. Ein bisschen Stress gehört dazu, scheint Eitans Augenzwinkern zu sagen, dann drückt er seinem Zögling das schwarze, halbautomatische Maschinengewehr mit scharfer Munition unsanft auf die Schulter.
Eitan ist zufrieden, er vergibt lobende Rückenklopfer. Seine Hände sind rau und voller Schwielen, der Nacken verbrannt, das Haar kurz rasiert. Er hat stets ein Springmesser, eine verspiegelte Sonnenbrille und jede Menge Werkzeug bei sich, das nach Überlebenskampf aussieht und die Frage aufwirft: Wo will der denn heute noch hin? Und wo ist eigentlich der Feind?
Die Antwort: Nirgendwo. Eitan Cohen brüstet sich damit, seit 20 Jahren im Feld zu sein. Eigentlich ist der 42-Jährige seit vier Jahren aber nur noch in einer Grauzone zwischen Realität und Theater im Einsatz, wobei seine olivgrüne Ausrüstung fast genau wie die Uniform der israelischen Streitkräfte aussieht. Er ist Lehrer, Soldat, Bühnenstar. Nach fünf Minuten Autofahrt über die gewundene Straße 3157 erreicht man die sogenannte Antiterror-Akademie namens „Caliber 3“ im Westjordanland. Auf halber Strecke zwischen Jerusalem und Hebron bieten hier israelische Ex-Soldaten und Reservisten seit 2003 Sicherheits- und Waffentrainings für Security-Profis aus aller Welt an, aber auch eine All-inclusive-Kriegserfahrung für Touristen – zwischen diversen Schießständen und vielen jungen Männern in Uniform, die aussehen wie israelisches Militär.
Boomender Militärtourismus: Im ganzen Land gibt es ein Dutzend ähnlicher Einrichtungen
Dieser Militärtourismus boomt, im ganzen Land gibt es ein Dutzend ähnlicher Einrichtungen. Caliber 3 empfängt etwa 20.000 Besucher pro Jahr. Erst geht es an einen gläsernen und mit über 1.000 leeren Patronenhülsen gefüllten Empfangstisch, um die Formalitäten zu erledigen, dann robben die Besucher für rund 200 Dollar am Tag mit Maschinengewehr auf dem Rücken durch den Sand, drei koschere Mahlzeiten inklusive. Die Erfahrung sei die beste Dosis Adrenalin und solle Ausländern den Nahostkonflikt näherbringen, heißt es auf der Website von Caliber 3. Für die einen befremdlich, für die anderen augenöffnend, zertifiziert von der israelischen Regierung.
„Ich glaube an eure Vision“, meldet ein Besucher ungefragt aus der ersten Reihe. Er komme aus den USA und habe dort schon viel von Caliber 3 gehört. „Ich möchte mich solidarisch bekennen. Ich stehe hinter eurer Sache“, sagt der Vorzeigeschüler. „Na, dann los“, antwortet Eitan. „Dann packen wir jetzt die Gewehre, gehen rüber ins nächste palästinensische Dorf und räumen da mal auf. Ist es das, was du dir vorstellst?“ – er erntet erstaunte Blicke. „Ja, es ist nicht so einfach. Ich lehre euch hier den nötigen Respekt vor der ganzen Angelegenheit.“ Eitan macht eine dramatische Pause. „Und vor Waffen. Denn Waffen töten, das ist ihre einzige Aufgabe.“
Das Ethos ist klar: Nach Diaspora und Holocaust greifen die Juden zur Waffe
Mittlerweile sind zwei Busladungen Touristen auf den Schießständen 4, 5 und 6 verteilt worden. Unter das Geknalle mischt sich Hundebellen: Drei Schäferhunde zerren an ihren Ketten. „Nun zeigen wir euch, was Disziplin im Kampf bedeutet“, kündigt Eitan an und macht eines der Tiere los. Der Hund hört auf den Namen Zeus und steht sofort bei Fuß. Er weicht auch nicht von Eitans Seite, als ein Mann mit Schutzhelm und rostbraunem Schaumstoffanzug aus einem Container tritt. Ein kurzer Fingerzeig von Eitan ändert das: Knurrend schießt Zeus los und stürzt sich auf den Mann. Beide gehen zu Boden. „Präzision und Treue, das braucht man im Feld“, kommentiert Eitan das Geschehen. Der Soldat stöhnt. Schäferhund-Speichel fliegt durch die Luft. „Genug“, sagt Eitan, und das Spektakel ist beendet.
Die Umgebung von Caliber 3 ist eine Idylle mit einer Prise Absurdität. Hinter dem Stacheldraht zur nächsten Siedlung stapft eine Hirschkuh durch das Unterholz. Das Camp liegt im Westjordanland, im israelischen Siedlungsblock Gush Etzion. Durch die Senke schallt im stetigen Rhythmus das Gewehrfeuer. Auf der nächsten Anhöhe thront ein palästinensisches Dorf. Dort fühlen sich manche von den Geräuschen der Gewehre bedroht, auch wenn Eitan versichert, die Nachbarn hätten sich mittlerweile an diese Ruhestörung gewöhnt. „Wenn mir jemand die Hand reicht, gehe ich nicht mit der Faust voran“, sagt er, und man ahnt, dass er diesen Satz für seine tägliche Ansprache auswendig gelernt hat. Das Ethos ist klar: Nach Diaspora und Holocaust greifen die Juden zur Waffe. Immer wieder tönen die Worte: „Nie wieder, nie wieder.“ Caliber 3 wurde aus Sensationslust und Trauma geboren. Bilder von KZ-Häftlingen hängen an den Wänden, in der Mittagspause wird das Gedicht einer Shoah-Überlebenden vorgelesen.
„Wir, als Nation, hatten 2.000 Jahre lang kein eigenes Land. Und niemanden, der uns beschützt“, sagt Caliber-3-Gründer Sharon Gat mit einer Stimme, die weder Widerspruch erlaubt noch Angst vor Pathos hat. Jetzt gibt es sogar eine Akademie, an der Juden aus aller Welt trainieren, sich zu verteidigen, sagt Gat, der sich selbst als Visionär und Restaurateur der Geschichtsschreibung sieht. Nicht jeder Israeli teilt seine Ansichten: Die linksliberale Tageszeitung „Haaretz“ hat sich oft kritisch zum Militärcamp geäußert, und als der jüdisch-amerikanische Stand-up-Comedian Jerry Seinfeld nach seinem letzten Auftritt in Israel Caliber 3 einen Besuch abstattete, ging ein Aufschrei durch die israelischen Medien.
Währenddessen geht Eitan in die finale Phase seines Parcours. Beim letzten Zirkeltraining wird zum Soundtrack von „Rocky Balboa“ geschossen. „Ich bin ein israelischer Mistkerl“, schreit Eitan, „ein verdammter Badass! Und mein Name ist – Rocky! Kämpft, kämpft!“