Südamerika ist der katholischste Kontinent der Welt, doch seit einigen Jahren herrscht für die Kirche eine Art Ausnahmezustand. Immer mehr Betroffene erzählen öffentlich, wie sie teils jahrelang von Geistlichen sexuell missbraucht wurden. Viele Katholiken sind schockiert vom Ausmaß des Missbrauchsskandals. Noch sind etwa 60 Prozent der Bevölkerung katholisch – aber die Zahl nimmt ab.
Die Krise begann in den frühen Nullerjahren und verschlimmerte sich nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2005. Der Vatikan reagierte auf die Vorwürfe mit undurchsichtigen internen Ermittlungen und kleinen Strafen: Der chilenische Bischof Francisco José Cox etwa wurde 2002 in ein Kloster nach Deutschland geschickt, ohne dass die Vorwürfe aufgearbeitet wurden.
Chile
Chile erstreckt sich über 4.200 Kilometer von Kap Hoorn bis nach Peru –
mit der entsprechenden Vielfalt an Klima- und Vegetationszonen. Die Gipfel der Anden erreichen hier fast 7.000 Meter. Besonders hoch sind in Chile auch das Pro-Kopf-Einkommen und die Lebenserwartung der Menschen, jedenfalls im südamerikanischen Vergleich.
Eines der ersten Urteile, die ein weltliches Gericht gegen einen Geistlichen verhängte, fiel in Argentinien. 2002 strahlte ein Fernsehsender einen Bericht über Julio César Grassi aus, in dem er beschuldigt wurde, fünf Kinder missbraucht zu haben. Grassi war damals der vielleicht berühmteste katholische Priester in Argentinien. Im Fernsehen warb er für Spenden für seine Waisenkinderstiftung. Der heutige Papst Franziskus, damals noch Kardinal Jorge Bergoglio, verteidigte Grassi vehement. Jahre später kam heraus, dass er sogar eine Studie in Auftrag gegeben hatte, die Grassi entlastete. 2013 kam Grassi nach einem langen Prozess für 15 Jahre ins Gefängnis.
Heute gibt es in Argentinien Missbrauchsvorwürfe gegen 80 Geistliche. Einige stechen heraus wie diejenigen rund um das Institut Próvolo, ein Internat für gehörlose Jugendliche. Bei den Ermittlungen kam heraus, dass viele der Täter italienische Priester waren, gegen die es bereits in Italien Missbrauchsvorwürfe gegeben hatte. Sie waren wegen der Vorwürfe nach Lateinamerika versetzt worden. Einer der Priester sagte einem Journalisten, dass zu seiner Zeit am Internat zehn Geistliche Kinder und Jugendliche missbrauchten. Die Organisation „Bishop Accountability“ – ein Netzwerk von Betroffenen aus den USA – glaubt, dass die 80 beschuldigten Geistlichen in Argentinien nur die Spitze des Eisbergs sind.
In Chile galt das Wort eines Bischofs einst so viel wie das eines Ministers
Besonders hart schlug der Missbrauchsskandal in Chile ein, das als eines der konservativsten Länder Südamerikas gilt. Bis vor wenigen Jahrzehnten zählte das Wort eines Bischofs dort mindestens so viel wie das eines Abgeordneten oder eines Ministers. Die Kirche hatte die Macht, Gesetze auszubremsen, die ihr nicht passten. Sie boykottierte auch Anti-Aids-Kampagnen, die dazu rieten, beim Sex Kondome zu benutzen. Doch diese Macht hat die Kirche nun eingebüßt.
Im Jahr 2010 machten drei Opfer des Priesters Fernando Karadima den von ihnen erlittenen Missbrauch öffentlich. Karadima ist ein erzkonservativer Pfarrer, der zum inneren Zirkel um den Diktator Pinochet gehörte. Pinochet regierte Chile von 1973 bis 1990 und war verantwortlich für Tausende Tote. Die Chilenen waren empört, in der Folge gingen weitere Opfer an die Öffentlichkeit. Die Vorwürfe richteten sich gegen fast alle Bistümer und Orden des Landes. 1995 gaben 74 Prozent der Chilenen an, katholisch zu sein, bis 2018 ist die Zahl auf 45 Prozent gefallen.
Die Auswirkungen waren besonders deutlich beim Besuch des Papstes im Januar 2018 zu spüren. Die chilenischen Katholiken empfingen Franziskus mit einer Kälte, die niemand vorhergesehen hatte. Seine letzten öffentlichen Gottesdienste blieben halb leer.
Dass das heute anders ist, hat auch mit den Ermittlungen gegen Geistliche zu tun
Drei Monate später vertiefte sich der Bruch zwischen Kirche und Gesellschaft weiter, als die Generalstaatsanwaltschaft anfing, gegen Geistliche zu ermitteln. Dafür stieg sie unter anderem in die Archive eines der größten Bistümer des Landes. Im März 2019 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen insgesamt 219 Geistliche und katholische Laien wegen sexuellen Missbrauchs. Die Mehrheit der 241 Opfer war zum Zeitpunkt der Tat noch keine 18 Jahre alt.
Der Missbrauchsskandal in Chile beunruhigt den Vatikan, weil er Auswirkungen auf die gesamte Region haben könnte. In vielen Ländern gibt es zwar ähnliche Vorwürfe, aber sie haben bis jetzt nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit bekommen wie in Chile. In Peru etwa erhob der Journalist Pedro Salinas in seinem Buch „Halb Mönche, halb Soldaten“ im Jahr 2015 Vorwürfe gegen die Mitglieder des „Sodalicio de Vida Cristiana“, einer lokalen und sehr konservativen katholischen Bewegung. Dort beschreibt Salinas, wie der Anführer Fernando Figari seine Macht nutzte, um Jugendliche zu manipulieren und sexuell zu missbrauchen. Salinas wurde später wegen Verleumdung verurteilt, geklagt hatte ein Bischof, der der Bewegung nahesteht. Vor wenigen Wochen zog der Bischof die Klage schließlich zurück – der öffentliche Druck war zu groß.
In Chile wie in Peru stammen die Betroffenen, die den erlittenen Missbrauch öffentlich machten, aus der Oberschicht. Sie hatten es schwer, gehört zu werden in dermaßen katholischen Gesellschaften, in denen Priester und Bischöfe bis heute sehr viel Macht haben. Und doch war es einfacher für sie als für die große Mehrheit der Betroffenen, die nicht so viel Geld, Einfluss und Kontakte haben. Papst Johannes Paul II. nannte Lateinamerika einst den „Kontinent der Hoffnung“. Die Hoffnung für die Missbrauchsopfer besteht wohl darin, erzählen zu können, wie die Kirche ihr Leben in Wahrheit verändert hat.