Ein neuer Bibliothekar? „Der ‚Stabi-Fuchs' lebt!“ Natürlich stellt auch die Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden ihre Fuchssichtung stolz auf ihrer Facebook-Seite aus. Das Tier sieht gut genährt aus, das Fell hat keine kahlen Stellen, der Schweif ist buschig. Direkt im Zentrum der Hauptstadt ließ sich der Fuchs am helllichten Tag von Mitarbeitern fotografieren, ein wenig skeptisch blickt er durch das Bibliotheksfenster.
Auf 1.200 bis 1.800 Exemplare wird der Berliner Rotfuchsbestand geschätzt – mehr geht nicht, die Reviere werden knapp. Hier geht es ihnen gut, lassen doch die Berliner ausreichend Nahrung herumliegen: Katzenfutter auf der Veranda genauso wie halb gegessene Döner. Füchse leben in Parks und Kleingartensiedlungen, auf Friedhöfen und stillgelegten Bahnlinien, trotten aber auch schon mal seelenruhig durch die belebten Szenebezirke im Zentrum.
Wenn Berliner von einer Fuchssichtung erzählen – meistens ereignen sie sich in der Dunkelheit –, wohnt dem noch immer ein Zauber inne. Ein wildes Tier? Hier, in der Stadt? Wie konnte sich das nur hierher verirren? „Diese Trennung von Stadt und Land ist in den Köpfen der meisten Menschen leider noch stark verankert“, sagt Derk Ehlert. Ehlert ist Pressereferent der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, bis zur Umstrukturierung seiner Behörde 2014 hatte er eine deutlich griffigere Jobbeschreibung: Wildtierreferent Berlins – ein in Deutschland einzigartiger Job. „Wobei die Tiere mich ehrlich gesagt nicht wirklich brauchen“, so Ehlert. „Eher sind es die Menschen, die man immer wieder um Verständnis bitten und aufklären muss, dass wir nicht die einzigen Lebewesen in der Stadt sind.“
Einzigartig: Berlin hat einen Wildtierreferenten
Zum Beispiel am Berliner Wildtiertelefon – der „Nummer für alle Felle“ –, das der NABU betreut. „Die meisten, die anrufen, sind verunsichert, sie haben Angst oder wollen sich beschweren“, sagt Ehlert. „Die fordern dann auch schon mal, dass wir die Tiere einfangen und nach ‚draußen‘ vor die Tore der Stadt bringen sollen.“ Die häufigsten Probleme lassen sich sauber nach Tieren unterscheiden: Beim Fuchs sei es die Angst vor Krankheiten, beim Wildschwein die Größe, beim Kaninchen die Menge, bei den Steinmardern das Auto und bei den Waschbären das böse Verhalten unterm Dachboden, das so gar nicht zum lieben Aussehen passen will.
Für diese „Big Five“ der Berliner Wildtiere gibt die Stadt zudem Faltblätter mit Antworten auf häufig gestellte Fragen heraus. Auch der „Lange Tag der Stadtnatur“ soll für mehr Verständnis für die Vielfalt der urbanen Flora und Fauna sorgen. Einzigartig in Deutschland ist das Studienfach Stadtökologie, das die Technische Universität als Master-Studiengang anbietet.
Dass ausgerechnet in Berlin besonders viel für Wildtiere getan wird, ist kein Zufall. Rund 42 Prozent der knapp 900 Quadratkilometer Stadtfläche sind Wasser- oder Grünflächen. Geschätzt 20.000 Tier- und Pflanzenarten gibt es in der Hauptstadt, darunter mehr als 50 Säugetier- und über 180 verschiedene Vogelarten. Neben den Big Five und quasi anerkannten Stadttieren wie Enten, Spatzen, Ratten, Krähen oder Tauben finden sich auch Biber, Dachse, Feldhasen, es gibt Falken, Waldkäuze, Grünspechte, Sommergoldhähnchen, Wacholderdrosseln. Die deutschlandweit größte Nachtigallenpopulation lebt in Berlin, ungefähr 100 Habichtreviere finden sich hier – und mit den Insekten fangen wir jetzt gar nicht erst an.
Die Geschichte machte Berlin zum idealen Biotop
Diese außergewöhnlich hohe Diversität hat nicht nur mit der Größe der Stadt zu tun, sondern auch mit ihrer Geschichte. Als die Industrialisierung um die vorletzte Jahrhundertwende Berlin zu seiner heutigen Größe aufblähte, hielten viele Fabrikbesitzer Grundstücke als Frischluftschneisen frei, auf denen ihre Arbeiter in kleinen Gärten Gemüse anbauten – man erhoffte sich davon eine höhere Produktivität. Zu Zeiten der Berliner Mauer achtete man in Westberlin wiederum besonders darauf, die Grünflächen zu erhalten – waren sie doch die einzigen Naherholungsgebiete in der Mauerstadt. Und nach der Wende lagen viele alte Industrieflächen brach, von denen bis heute einige nicht bebaut sind. Auch sie sind ein ideales Biotop für viele Tier- und Pflanzenarten.
Dennoch hat Berlin hier im Grunde keinen Sonderstatus. Auch in anderen Städten ist die Biodiversität höher als im Umland – und diese Erkenntnis ist nur auf den ersten Blick überraschend. Man muss nur mal zwei Satellitenfotos nebeneinanderlegen: In der Stadt gibt es eine kleinteilige Struktur aus Wasser-, Wiesen-, Agrar- und Parkflächen, aber eben auch Brach- und Asphaltlandschaften, Kleingärten und Industrieanlagen – viele verschiedene Biotoptypen auf engem Raum.
Die deutsche Agrarlandschaft hingegen besteht aus oft riesigen Parzellen und Monokulturen. Mit ihrer fast lückenlosen Bewirtschaftung der Böden und dem Pestizideinsatz sorgen die Bauern dafür, dass den Tieren auf dem Land die ökologischen Nischen ausgehen, etwa weil Wiesen während der Brutzeit gemäht werden. Also fliehen sie in die Städte. Allein auf den Wiesen des ehemaligen Flugplatzes Tempelhof leben heute zwischen 60 und 120 Brutpaare.
Anderen Tieren hingegen, etwa den Wildschweinen, geht es auf dem Lande eigentlich sehr gut – und so werden sie durch ihren eigenen Populationsdruck in die Städte getrieben. Es gibt eben viele Gründe für die Landflucht von Tieren. Viele sind auch sogenannte „Kulturfolger“ – Arten, die der Mensch unbewusst mitversorgt, durch die Nahrung im Zivilisationsmüll, aber auch, weil Städte wärmer sind und Schutz vor vielen Fressfeinden und Jägern bieten. Die Evolution begünstigt Opportunisten, das ist bekannt, und Tiere machen sich im Allgemeinen nicht so viel aus „der unberührten Natur“ wie wir Menschen – sie haben keine Vorstellung von „Stadt“ und „Land“ und gehen dahin, wo sie gut leben können.
Wildtiere passen sich ans Stadtleben an
Ratten, Fledermäuse und Rauchschwalben etwa sind Kulturfolger, genau wie der Mauersegler, der vor 120 Jahren ein reiner Höhlenbrüter war. Inzwischen lebt er genauso gern an den vielen Steil- und Brandwänden der Städte – noch zumindest, denn durch die vielen energetischen Gebäudesanierungen wird ihm der Lebensraum vom Menschen quasi zugekleistert.
Mit dem Umzug kommt es auch zu Verhaltensänderungen: So gilt es als nachgewiesen, dass Stadtvögel hochfrequenter und lauter singen, um sich gegen den Verkehrslärm durchzusetzen. Viele Säugetiere haben wiederum ihren Mindestabstand zu den Menschen deutlich reduziert. Und auch die Amsel hat sich ans Stadtleben angepasst und verzichtet mittlerweile darauf, im Winter nach Süden zu fliegen – anders als ihre Schwestern und Brüder auf dem Land. „Warten wir noch ein paar tausend Jahre ab, dann könnte sich daraus vielleicht eine neue Art entwickeln“, sagt Derk Ehlert.
Michael Brake ist in der fluter.de-Redaktion für Kulturthemen zuständig. Für die taz schreibt er jeden Monat eine Kolumne zum Thema „Kreaturen“.
Fotos: Thorsten Wiehle / Berliner Forsten; José Giribas / Fotofinder.com