Beruflich beschäftigt sich Sara Grundel viel mit Erdgas. Doch Grundel ist keine Ingenieurin, sie ist keine Klempnermeisterin und auch nicht in einem Chemielabor tätig. Sara Grundel ist Mathematikerin. Und gemeinsam mit ihrem Team am Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg versucht die 41-Jährige, das Gasnetz in Deutschland zu optimieren.
Das sei bisher ein eher starres System, erklärt Grundel: „Sehr vereinfacht gesagt kommt das Gas von außen über ein paar Pipelines rein, dann wird es verteilt. Dazu gibt es noch ein paar Verdichter, damit der Druck auch immer hoch genug ist.“ Doch weil die Gasversorgung im Zuge der Energiewende vor großen Veränderungen steht, wird das System zunehmend komplexer. Immer häufiger kommt es auch zu Einspeisungen innerhalb des Netzes, von Biogas etwa oder von Wasserstoff, der dieselben Leitungen nutzt, aber andere Eigenschaften hat.
„Wir versuchen zu verstehen, wie sich der Druck und die Flüsse in einem so großen Netz verändern“, sagt Sara Grundel. „Und dabei ist die Frage: Schaffen wir es, ein derartig dynamisches System im Minutenbereich aufzulösen?“ Sprich: zu modellieren, wie sich einzelne Einspeisungen unmittelbar auswirken, und das möglichst schnell. „Denn das ist im operativen Bereich von einem Gasnetz ja relevant. Wenn ich die Entscheidung treffen muss, welchen Regler ich in den nächsten 15 Minuten bediene, aber das Ergebnis meiner Simulation kommt erst in einer Woche bei mir an – dann bringt mir das nichts.“ Deswegen beschäftigen sich Grundel und ihr Team mit sogenannten Modellreduktionsmethoden: Werkzeuge, mit denen solch umfangreiche Simulationen schneller hinzubekommen sind.
Eine Party zu planen ist auch eine Art Modell: Wie viele kommen, wer isst vegetarisch, und wie wird das Wetter? Alles wichtige Variablen
Im Alltag modellieren wir im Prinzip auch immer mal wieder. Wenn wir zum Beispiel für ein Sommerfest den Einkauf planen, dann rufen wir nicht einzeln jede eingeladene Person an und fragen nach, was sie möchte. Wir nehmen die Zahl der Gäste und überschlagen, wie viel jeder isst und trinkt. Vielleicht berücksichtigen wir, wer vegetarisch isst und dass Schweinesülze und Knoblauchsoße nicht jedermanns Sache sind. Und außerdem, wie viele Kinder kommen. Der Verbrauch alkoholischer Getränke dürfte höher liegen, wenn die Feier abends steigt. Und auch die Wettervorhersage – ganz nebenbei gesagt: ebenfalls eine riesige Modellierung, vielleicht die bekannteste – beeinflusst unsere Rechnung. Ist Regen angesagt, wird kein Grillgut eingekauft, bei 30 Grad mehr Eis. Welche dieser Gedanken wir am Ende wie sehr berücksichtigen, ist Typfrage. Aber am Ende steht die Liste.
Gästezahl, Wetteraussichten, Uhrzeit, Sülze: Das sind Variablen, die sich noch mit Stift und Papier beherrschen lassen. Vieles auf der Welt ist komplexer. Wie verhalten sich 50.000 Menschen, die ein Fußballspiel besuchen: Wie viele kommen aus welcher Richtung, und wie lassen sich Engpässe verhindern? Wie hoch ist der Gesamtschaden, wenn ein Herbststurm über Norddeutschland zieht? Wie entwickeln sich Lieferketten? Oder die Rentenkassen?
Manche Modelle operieren im Minutenbereich, andere, wie die von Klimaforscherinnen und Klimaforschern, nehmen Jahrhunderte und Jahrtausende in den Blick. Aber immer stellen sich die gleichen Fragen: Was passiert, wenn? Und wie viele dieser „Wenns“ können berücksichtigt werden?
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Weil Computer immer schneller und leistungsstärker werden, können Modelle immer genauer und komplexer sein. Und doch bleiben sie stets eine Vereinfachung, eine Reduktion der Wirklichkeit. „Es sind letztlich drei Schritte“, beschreibt Sara Grundel: „Es gibt die echte Welt, von der abstrahiere ich erst mal. Was soll das Modell aussagen? Was sind die Annahmen, die hineinfließen? Und was sagt es eben nicht aus, was wird nicht berücksichtigt? Denn ich kann die Realität nie zu 100 Prozent mit allem und jedem abbilden. Daraus baue dann ich die mathematischen Formulierungen, die ein Computer auch versteht. Und am Ende muss es mir der Computer noch ausrechnen, und ich muss die Daten richtig interpretieren.“
Diejenigen, die diese Modelle bauen, sind in der Regel Mathematikerinnen und Mathematiker. Die Modellinhalte kommen aber aus ganz verschiedenen Fachgebieten, und so gehört es zu Sara Grundels Aufgabe, mit Expertinnen und Experten zu sprechen, sich die Sachverhalte erklären zu lassen und die Mechanismen hinter den Dingen zu verstehen, um sie dann in die Sprache der Mathematik zu übersetzen. Besonders gut funktioniere das in den Naturwissenschaften, sagt Grundel, oder wenn es darum geht, physikalisch-technische Prozesse abzubilden, sowie in einigen Bereichen der Medizin. Komplexer wird es, wenn Menschen mit im Spiel sind. Denn die handeln weniger vorhersehbar als Erdgas und halten sich nicht immer an die Regeln.
In Sara Grundels Berufsalltag krachte der Faktor Mensch im Frühjahr 2020 mit Wucht – mit dem Beginn der Coronapandemie.
Sie selbst stürzte sich in die vielen neuen Zahlen und Daten, auch weil sie ihr Halt gaben und die komplett neue Situation erfassbar machten. Früh erzählte Grundel im Freundeskreis, dass die Ausgangsbeschränkungen aus anderen europäischen Ländern sehr bald bei uns kommen würden. Und sie begann, ein eigenes Modell zu bauen, erst privat, dann auch beruflich. „Dabei ging es am Anfang um die Frage: Wie können wir die Tests am besten einsetzen?“, erinnert sich Grundel. „Also PCR-Tests in Kombination mit Kontaktbeschränkungen – andere Steuermöglichkeiten hatten wir damals ja noch nicht. Und da wurde dann ganz schnell klar, dass die Testkapazitäten bei Weitem nicht ausreichen würden, um auf Kontaktbeschränkungen zu verzichten.“
Mit der Zeit wurde das Modell immer weiter verbessert und verfeinert: Erkenntnisse aus neueren Studien, etwa über Inkubationszeiten oder Ansteckungswahrscheinlichkeiten, wurden eingepflegt, Schnelltests kamen dazu und irgendwann die Impfungen. Und, wie gesagt, der Faktor Mensch. Denn natürlich kann man berechnen, was es bringt, wenn alle ihre Maske korrekt tragen – nur tun das eben nicht alle Menschen, manche absichtlich, manche eher versehentlich. Und um es noch komplexer zu machen, ändert sich ihr Anteil im Laufe der Zeit, wenn Vorsicht und Geduld nachlassen. In die Modelle sollen solche Unwägbarkeiten mit einfließen, deswegen hat Sara Grundel unter anderem mit einem Public-Health-Experten gesprochen, der viel Erfahrung in der Aidsprävention hat – eine andere Krankheit, für die es gute Methoden gibt, ihre Verbreitung einzudämmen, sofern die Leute informiert sind und auch mitmachen.
In der Coronapandemie war Sara Grundels Kunst besonders gefragt
Nicht nur Sara Grundels Themenschwerpunkt änderte sich mit der Pandemie, sondern auch der öffentliche Blick auf ihre Arbeit: Auf einmal waren Zahlen ein ständiger Begleiter und ihre Bedeutung relevant für alltägliche Entscheidungen. Auf einmal waren Modelliererinnen und Modellierer gefragte Leute. Auf einmal stellten ihnen die Menschen Fragen. „Es ist natürlich ein schönes Gefühl, wenn so ein Interesse da ist. Sonst war die Reaktion, wenn man sagt: Ich bin Mathematikerin, oft ja eher: Ähem, Mathe ... das fand ich schon in der Schule doof“, sagt Grundel und lacht.
Ihr selbst fiel der Umgang mit Zahlen als Kind leicht. Dass es vielen Leuten anders geht, das musste sie sich während der Pandemie hin und wieder vergegenwärtigen. Und dass viele mit Latenzzeiten oder Wahrscheinlichkeiten ihre Schwierigkeiten hatten und von Erkrankungen oder Nichterkrankungen in ihrem direkten Umfeld auch gern mal auf den allgemeinen Pandemieverlauf schlossen, daran ist sie manchmal auch ein wenig verzweifelt. „Ich weiß nicht, ob man da schon früher ansetzen und mehr Leute mitnehmen könnte, vielleicht schon in der Grundschulbildung – denn man macht ja keine Mathematik in der Grundschule. Man rechnet“, sagt sie.
Gehört wurde Grundel in der Pandemie nicht immer. Als es um die Priorisierung der Impfungen ging, kam sie zu dem Ergebnis, dass es am effektivsten sei, zunächst die mittelalte Bevölkerungsgruppe zu immunisieren, die das Virus am häufigsten weitertrage – und erst danach ältere und vorerkrankte Menschen. Gemacht wurde es andersherum.
Grundel steht zu ihren Ergebnissen, versteht aber auch die Entscheidungen der Politik. „Klar kommt in der Wirklichkeit immer noch eine psychologische Komponente mit hinzu. Ich denke, die Vulnerablen waren auch verunsichert, und man musste ihnen zeigen, dass sie gehört und gesehen werden – was ja auch gesamtgesellschaftlich ganz wichtig ist.“ Weil Modelle immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden, liefern sie keine alleinige Antwort auf die komplexen Fragen, die eine Pandemie eben mit sich bringt. Sondern nur eine Hilfestellung für die Politik, um zu Entscheidungen zu kommen. „Ich denke, man sollte die Zahlen verstehen, die Modelle und was sie aussagen – aber dann eine menschliche Entscheidung treffen“, sagt Grundel.
Noch ist die Coronapandemie nicht vorüber, doch aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwindet sie immer weiter. Epidemiologen und Mathematikerinnen sind nur noch selten Talkshowgäste. Auch Sara Grundel kümmert sich jetzt wieder hauptsächlich um die Simulation der Erdgasnetze – einen Themenkomplex, der auf einmal ebenfalls im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Diesmal, wenn es um die Frage der Abhängigkeit von russischem Erdgas geht, den Füllstand deutscher Gasspeicher und die Versorgungssicherheit.
Eine gesteigerte Dringlichkeit seitens der Betreiber spürt auch Grundel. Aber muss sie ihr Modell jetzt noch einmal von vorne bauen? „Nein“, sagt sie. „Wir machen ja Grundlagenforschung.“ Und wenn der russische Gashahn wirklich zugedreht würde? „Das ist für das Modell egal. Das Gerüst bleibt das gleiche. Da mache ich einfach an dieser Stelle eine Null dran – und fertig.“