Thema – Ukraine

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Rohrkapierer

Die 1.220 Kilometer lange Pipeline Nord Stream 2 ist fast fertig. Ob sie je in Betrieb geht, ist aber offen. Wer will die Pipeline? Und wem schadet sie?

Update, 25. Februar: Die Bauarbeiten abgeschlossen, die Gasleitungen gefüllt: Damit Nord Stream 2 in Betrieb geht, hätten die deutschen Behörden die Gasleitung nur noch genehmigen müssen. Diesen Vorgang hat die Bundesregierung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vorerst gestoppt. Endlich, rufen viele: Das Pipelineprojekt war seit Baubeginn umstritten. Warum, lest ihr hier.

Nord Stream 2 aus Sicht …

1. Russlands
2. des Energiesektors
3. der USA
4. der EU
5. des Klimas
6. Deutschlands

Zwei Rohre machen Weltpolitik. Eigentlich soll die Pipeline Nord Stream 2 einfach nur Erdgas zwischen dem russischen Ust-Luga und Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern transportieren. Aber seit 2018 das erste Teilstück in der Ostsee versenkt wurde, ist das 1.224 Kilometer lange Bauprojekt so umstritten wie kaum ein anderes.

Heute ist Nord Stream 2 zu 94 Prozent fertig. Ob die Pipeline jemals in Betrieb gehen wird, bleibt trotzdem offen. Wer will sie? Und wem schadet sie? Sechs Stopps auf der Pipeline

1. Russland: für Nord Stream 2

Im nordwestrussischen Ust-Luga zwischen Sankt Petersburg und der estländischen Grenze nimmt das Projekt Nord Stream 2 seinen Anfang. Warum Russland Deutschland und andere europäische Länder mit Erdgas versorgen will, liegt auf der Hand: Es gehört zu den Ländern mit den größten Erdgasreserven weltweit, allein 2019 hat Russland 679 Milliarden Kubikmeter Erdgas gefördert. Das entspricht einem Marktanteil von 17 Prozent und macht Russland zum zweitbedeutendsten Erdgasproduzenten hinter den USA. „Der Export von Energie ist wesentlich für den russischen Staatshaushalt“, sagt Sarah Pagung, Russland-Expertin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.

Bislang leiten mehrere Pipelines russisches Erdgas nach Europa: Neben der 2011 fertiggestellten Ostseepipeline Nord Stream 1 gehören dazu auch Soyuz, Brotherhood oder Transgas – also Verbindungen durch andere Länder wie Belarus, Polen oder die Ukraine. Da war doch was: Vor sieben Jahren besetzte Russland die ukrainische Halbinsel Krim. Bis heute wurde die Annexion international nicht anerkannt. Der Krieg zwischen Separatisten und Anhängern der Russischen Föderation hält an.

Was das mit den Gasrohren zu tun hat? Ohne die Ostseeröhren braucht Russland die Ukraine als wichtiges Transitland, musste also zwangsläufig mit dem verfeindeten Nachbarland zusammenarbeiten. Zudem verdiente die Ukraine am Transport mit. „Mithilfe von Nord Stream 2 kann Russland die Ukraine umgehen“, sagt Pagung. „Das ist der Kern der russischen Interessen.“

2. Energiesektor: uneins

Die Bundesregierung betont seit Jahren, dass die Pipeline zwischen Russland und Deutschland ein „rein wirtschaftliches Projekt“ sei. Allerdings gehört die Nord Stream 2 AG, die das Projekt plant, baut und später betreiben soll, komplett dem russischen Energiekonzern Gazprom. „Diesen Konzern“, sagt Sarah Pagung, „kann man nicht mit anderen Energieunternehmen wie Shell, Total oder ExxonMobil vergleichen, weil er zur Hälfte im Staatsbesitz ist und immer wieder auch politisch instrumentalisiert wurde.“ So hat Gazprom der Ukraine schon mehrfach das Gas abgedreht (das den Gasdurchfluss seinerseits aber auch schon blockiert hat).

Es steckt aber nicht nur russisches Geld in den wohl rund zehn Milliarden Euro teuren Gasrohren. Zu den Investoren gehören neben dem Energieversorger Engie aus Frankreich, dem österreichischen Öl- und Gaskonzern OMV und dem britisch-niederländischen Mineralölkonzern Shell auch zwei Energieunternehmen mit Sitz in Deutschland: Uniper und Wintershall DEA. Die mitteleuropäischen Konzerne tragen zusammen rund die Hälfte der Kosten. Platzt das Projekt Nord Stream 2, wäre ihr Geld weg.

Die Unternehmen könnten in diesem Fall auf Schadensersatz klagen. Dass sie vor einem Gericht recht bekommen, bezweifelt Claudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). „Nord Stream 2 war von Beginn an ein betriebswirtschaftlich höchst fragwürdiges Investitionsprojekt“, sagt Kemfert. Sie verweist auf Studien des DIW, nach denen es in Deutschland langfristig weniger Bedarf an Gas geben wird – und somit keinen zwingenden Grund, eine weitere Pipeline in Betrieb zu nehmen. Die beteiligten Unternehmen wie Uniper betonen dagegen, es brauche die Pipeline, um Europa sicher und kostengünstig mit Erdgas zu versorgen.

3. Die USA: gegen Nord Stream 2

Barack Obama und Donald Trump mögen sich in wenigen Punkten einig gewesen sein. Wenn es um Nord Stream 2 ging, vertraten beide Ex-US-Präsidenten aber stets dieselbe Ansicht: Sie waren gegen die Pipeline, genau wie ihr seit Januar amtierender Nachfolger Joe Biden. Schließlich machen sich Europa und insbesondere Deutschland durch Nord Stream 2 viel zu abhängig von Russland und russischem Erdgas – so die offizielle Argumentation der USA.

Trump hatte während seiner Amtszeit bereits mit Sanktionen gegen am Bau beteiligte Unternehmen gedroht und diese Drohungen teilweise umgesetzt. Daran scheint sich unter Biden nicht viel zu ändern: Er hält Nord Stream 2 für einen „schlechten Deal für Europa“.

Die Sorge um Europas Energiesicherheit hält Robert Sperfeld für ein „vorgeschobenes Argument“ der US-Regierung. Er ist Referent bei der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung und sieht das Bauprojekt ebenfalls kritisch. Sperfeld sagt aber auch: „Die USA haben kommerzielle Interessen: Sie möchten ihr eigenes Gas verkaufen.“ Tatsächlich hat die EU zuletzt immer mehr Flüssigerdgas, auch LNG genannt, aus den USA importiert und dafür eigens Hafenterminals bauen lassen. Insgesamt 36 gibt es bislang, in Deutschland ist ein erstes Terminal in Planung. Europäische Staaten könnten ihr LNG künftig nicht nur aus den USA, sondern auch aus Katar, Algerien oder Nigeria beziehen. „Insofern haben sie viele Alternativen, sollte Russland damit drohen, den Gashahn abzudrehen“, sagt Sperfeld.

Neben diesen energiepolitischen Erwägungen hinterließ auch ein Ereignis aus dem vergangenen Sommer seine Spuren in der Bauwirtschaft: der Anschlag auf Alexej Nawalny. Der russische Oppositionspolitiker wurde vergiftet, viele verdächtigen die russische Regierung. Unter Biden haben die USA deshalb Sanktionen gegen Russland verhängt. Mittlerweile haben sich mindestens 18 europäische Unternehmen aus dem Bauprojekt zurückgezogen, um möglichen US-Sanktionen zu entgehen.

4. Die EU und Europa: uneins

Bis im Oktober 2019 Rohre südöstlich der zu Dänemark gehörenden Insel Bornholm verlegt werden durften, musste sich die Projektgesellschaft hinter Nord Stream 2 mehr als anderthalb Jahre gedulden: Die dänische Regierung zögerte unter anderem wegen der Auswirkungen für die Ukraine, aber auch wegen sicherheitspolitischer Bedenken.

Damit ist Dänemark längst nicht das einzige Land in Europa, das das Bauprojekt misstrauisch beobachtet oder gar offen ablehnt. Die EU-Kommission hat sich bereits 2017 gegen das Projekt ausgesprochen. Auch Polen und die baltischen Staaten sind dagegen. „Sie befürchten mehr russischen Einfluss“, sagt Pagung. Für Polen fielen darüber hinaus noch Transitgebühren weg. Das gilt auch für die Ukraine – in besonderem Maße: Sie würde nicht nur Transitgelder in Milliardenhöhe verlieren, sondern auch eine Sicherheit gegenüber Russland, das sein Gas nicht mehr im großen Umfang durchs Nachbarland leiten müsste. „Dadurch fiele für die Ukraine ein Druckmittel weg, weiterhin relativ sicher und günstig Gas aus Russland zu erhalten“, sagt Pagung.

Viele andere EU-Staaten hielten sich beim Thema Nord Stream 2 bedeckt. Bis zum Anschlag auf Alexej Nawalny. Danach sprach sich eine Mehrheit im EU-Parlament für einen Baustopp von Nord Stream 2 aus.

5. Klima: gegen Nord Stream 2

Im Mai 2018 entdeckten Spaziergänger pinkfarbene Fettklumpen im westlichen Greifswalder Bodden, einer Bucht zwischen Rügen, Greifswald und Usedom. Kurz darauf wurde bekannt, dass ein Leck an einem Baggerschiff von Nord Stream 2 die Verschmutzung verursacht hatte. Der Naturschutzbund Deutschland versuchte, vor Gericht einen Baustopp zu erwirken. Vergeblich. „Nord Stream 2 ist ein schwerwiegender Eingriff in sensible Meeresökosysteme“, sagt Sperfeld von der Heinrich-Böll-Stiftung. 

Es sind nicht nur solche unmittelbaren Schäden an der Natur, die Klimaschützer wie „Fridays for Future“ anprangern. Sie kritisieren vor allem, dass Erdgas keine klimafreundliche Alternative zur Kohle sei, sondern selbst „ein fossiler und somit klimaschädlicher Energieträger“. Die DIW-Forscherin Claudia Kemfert denkt das auch. Sie zitiert Studien, die zeigen, dass bei Erdgasförderung und -transport dessen Hauptbestandteil Methan entweiche – womit Erdgas „kaum klimafreundlicher“ wäre als Kohle. Methan-Emissionen sind rund 25-mal klimaschädlicher als CO2-Ausstöße.

6. Deutschland: in der Zwickmühle

Ob im Bundestag, bei EU-Treffen in Brüssel oder Staatsbesuchen: Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt seit Jahren, dass es Nord Stream 2 brauche, damit Deutschland seine Klimaziele erreicht. Wer aus der Kohle rauswolle, brauche Erdgas. 

Den Bundestag wusste sie dabei hinter sich: Über Parteigrenzen hinweg befürworteten die meisten Abgeordneten die neue Pipeline, bis auf die Grünen. Seit dem Giftanschlag gegen Nawalny hat sich das geändert: Auch FDP-Politiker sprechen sich seither für einen Baustopp aus, in der CDU/CSU gibt es Stimmen, die ein Moratorium, also einen Aufschub der Bauarbeiten, fordern. Die Fraktionen der SPD, der AfD und der Linken hingegen befürworten Nord Stream 2, zumindest aktuell.

„Es gibt jetzt keinen einfachen Weg mehr raus aus Nord Stream 2“, sagt Sperfeld. Die Bundesregierung steckt in der Zwickmühle: Zieht Deutschland das Projekt durch, ist Ärger mit den USA und anderen europäischen Staaten vorprogrammiert. Zieht es sich zurück, verlieren mehrere – auch deutsche – Großunternehmen sehr viel Geld und dürften klagen. „Um nicht in Teufels Küche zu kommen, kann es gut sein, dass die Bundesregierung das Projekt nicht stoppt und auf Zeit spielt, zumindest bis zur Bundestagswahl“, sagt Pagung. Sollten die USA bis September weitere Sanktionen gegen Bauunternehmen androhen oder verhängen und sich diese daraufhin zurückziehen, könnte sich Nord Stream 2 von selbst erledigen, mutmaßt Pagung. „Und die Bundesregierung wäre fein raus.“

Titelbild: Ulrich Baumgarten / Getty Images

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