An einem Abend im Frühjahr letzten Jahres machte Irina Zhemerkina ein Fenster auf, um zu lüften – und schlug es sofort wieder zu. „Es roch nach faulen Eiern und Chemikalien“, erzählt die 34-Jährige. „So stark, dass ich würgen musste.“ Irina wohnt zusammen mit ihrem Mann und der zweijährigen Tochter in Kolomna – einer kleinen Stadt gut 100 Kilometer entfernt von Moskau, beliebt bei Touristen für ihre historische Altstadt und den fast 500 Jahre alten Kreml. Die Familie wohnt am Stadtrand, aus ihrem Fenster im zehnten Stock schauen sie weit über die Felder. „Wir wollten, dass unsere Tochter nah an der Natur aufwächst und frische Luft atmet“, sagt Irina. „Was für eine Ironie.“
300 Lkw-Ladungen Müll aus Moskau am Tag
Dass die Mülldeponie Wolowitschi nur fünf Kilometer von ihrem Haus entfernt ist, störte Irina zuerst nicht. Bis im Frühling 2017 die Müll-Lkws aus Moskau kamen. „Sie waren um ein Vielfaches größer als die Müllautos aus Kolomna und hatten oft noch einen Anhänger“, erzählt sie. Häufig fielen leere Flaschen und alte Autoreifen von ihren Ladeflächen herunter, Plastiktüten flogen durch die Straßen. Als klar wurde, dass der Zustrom von Müll nicht aufhört, bildeten elf Anwohner die Bürgerinitiative „Nein zur Müllhalde Kolomna – unsere Stadt ist keine Abfallgrube“.
In Russland werden nur bis zu neun Prozent der Haushaltsabfälle recycelt. Ein noch kleinerer Prozentsatz wird verbrannt
Die Aktivisten installierten eine Kamera in der Nähe der Deponie, die bis zu 300 fremde Müllautos pro Tag aufzeichnete, erzählt Irina. Im Winter häufte sich so viel Müll, dass sie weder die Fenster aufmachen noch mit ihrer Tochter auf den Spielplatz gehen konnte, wenn der Wind aus der Richtung der Müllhalde wehte.
Nicht nur in Kolomna, überall in Russland wachsen die Müllberge – vor allem um die Großstädte herum. In Russland werden nur bis zu neun Prozent der Haushaltsabfälle recycelt, und ein noch kleinerer Prozentsatz wird verbrannt. Der Rest landet ungetrennt auf legalen und illegalen Mülldeponien.
Ein Bericht der Umweltaufsichtsbehörde Rosprirodnadzor schätzt deren Gesamtgröße auf über 4,7 Millionen Hektar – eine Fläche größer als die Niederlande. In der Moskauer Umgebung gilt die Lage als besonders schlimm. Denn die Moskauer produzieren doppelt so viel Müll wie der Bevölkerungsdurchschnitt in Russland, und im Stadtgebiet gibt es wenig Platz für Mülllagerung. Zudem schlossen in den letzten Jahren viele städtische Deponien, weil sie überfüllt oder veraltet waren. Und so ist die Zwölf-Millionen-Metropole dazu übergegangen, den Großteil ihrer Abfälle in Kleinstädten in der Umgebung abzuladen.
Deren Einwohner fürchten nicht nur den Gestank. Sie haben auch Angst, dass sich durch die Überfüllung ihrer Deponien Giftgase bilden und das Grundwasser verunreinigt werden könnte. In Wolokolamsk, etwa 125 Kilometer von Moskau entfernt, suchten im Frühling dieses Jahres mehr als 500 Menschen mit Vergiftungserscheinungen ärztliche Hilfe, darunter Dutzende Kinder.
Straßenblockaden gegen Müll
Irina befürchtet ein ähnliches Schicksal für Kolomna. Zusammen mit anderen Aktivisten sammelte sie deshalb Unterschriften gegen die Vergrößerung der Deponie, schrieb Briefe an den Präsidenten und den Umweltminister, hielt Vorträge, organisierte Kundgebungen. Ende März wurde der Gestank so schlimm, dass mehrere hundert Menschen aus Protest in Kolomna auf die Straße gingen. „Das waren keine Aktivisten, sondern Verzweifelte, die die Schnauze voll hatten“, erzählt Irina. Einige Bürger blockierten tagelang die Straße zur Deponie Wolowitschi und ließen die Müllwagen aus Moskau nicht durch. Mehr als 20 Leute wurden von der Polizei abgeführt. Doch die Einwohner machten fast einen Monat lang weiter – bis die Stadtverwaltung versprach, die Anzahl der Mülllieferungen zu reduzieren und Wolowitschi Ende 2019 zu schließen.
Die Sowjetunion verwertete mehr von ihren Abfällen als das heutige Russland – vor allem, weil Rohstoffe im Land knapp waren
Die Bürgerinitiative blieb aber auch danach aktiv. Inzwischen ist sie auf 40 Mitglieder gewachsen. Deren Seite bei vk – eine Art russisches Facebook – hat mittlerweile fast 22.000 Mitglieder. Dort informieren die Aktivisten über die Gefahren der Deponie, klären aber auch auf, wie man Müll recycelt. Oder sie laden die Menschen zu Subbotniki ein, bei denen sie die Stadt sauber machen und Altpapier und -metall sammeln. Solche Subbotniki hatten zu sowjetischen Zeiten Tradition. Die Sowjetunion verwertete mehr von ihren Abfällen als das heutige Russland – vor allem, weil Rohstoffe im Land knapp waren. Schulklassen mussten damals Quoten für gesammeltes Altpapier erfüllen.
Und manche Bücher konnte man nur gegen Bons eintauschen, die man für abgegebenes Altpapier bekam. „In den Achtzigern wurden bis zu 60 Prozent des Papiers und über 30 Prozent von Autoreifen recycelt“, sagte Sergej Donskoj, der bis Mai 2018 Umweltminister war, in einem Interview. „Heute sind es entsprechend nur 36 und 10 Prozent.“
Zusammen mit anderen Aktivisten setzte sich Irina dafür ein, dass eine Gitterbox zum Sammeln von Plastik vor dem Eingang ihres Hauses aufstellt wird. Ein Recyclingunternehmen leert sie einmal die Woche. „Wir hatten Angst, dass die Menschen alles Mögliche hineinschmeißen“, sagt sie. „Aber nein, es war ein Erfolg.“ Und zwar ein so großer, dass inzwischen knapp 100 solcher Gitterboxen in Kolomna stehen. Mülltrennung in Hausnähe ist in Russland bisher die Ausnahme. Wer recyceln will, muss Plastik und Altpapier bei den wenigen Sammelstellen abgeben – und ihn solange zu Hause aufbewahren. Dabei wollen 57 Prozent der Russen Müll trennen, fand eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Lewada im Auftrag von Greenpeace heraus. Doch wussten 75 Prozent der Befragten nicht, wo sie Wertstoffe abgeben können.
Die Regierung will bis 2030 eine Mülltrennung einführen
Dass innerhalb der nächsten Jahre Recyclingtonnen in allen russischen Städten aufgestellt werden, ist nicht zu erwarten. Zwar will die Regierung bis 2030 eine Mülltrennung einführen und die Endlagerung von wiederverwertbarem Müll auf Deponien verbieten. Doch Irina setzt wenig Hoffnung in diese Versprechen. „Ich setze auf die Kinder“, sagt sie. Deswegen klärt sie in Schulen über Mülltrennung auf. „Die Schüler erziehen dann ihre Eltern. Die ältere Generation denkt immer noch zu häufig: Die Regierung soll sich darum kümmern.“
Wenn der Wind aus dem Südwesten kommt, stinkt es in Kolomna immer noch. Immerhin, sagt Irina, kommen täglich nur noch 25 Mülltransporter aus Moskau. „Wären wir still geblieben, wäre die Lage noch schlimmer. Aber es sei ein fragwürdiger Sieg.“ Wenn der Müll nicht hier lande, dann lande er woanders. Für nächstes Jahr wird die Eröffnung der Deponie Mjatschekowo diskutiert, die fünf Mal größer werden soll als Wolowitschi. Entfernung zu Kolomna: sechs Kilometer.
Titelbild: Oleg Nikishin / Getty Images