Die Drogenindustrie ist ein gewaltiger Wirtschaftszweig und beliebt in der Popkultur. Meistens sind in diesen Erzählungen Männer die Strippenzieher: Sie sind die mächtigen Bösewichte, Frauen werden als Ehefrauen oder Opfer wahrgenommen. Die in Mexiko lebende Journalistin Deborah Bonello hat ein Buch über Frauen in den Kartellen geschrieben. Im Interview erzählt sie von ihrer Recherche.
fluter.de: Drogenkartelle und „Narcos“, Spanisch für Drogenhändler, haben auch durch die gleichnamige Serie Eingang in die Popkultur gefunden. Woher kommt diese Faszination?
Deborah Bonello: Ich glaube, es ist die berauschende Mischung aus Macht, Risiko, Rebellion, Bereicherung, Sex, Glamour und Gewalt, die die Drogenkartelle darstellen. Drogenbosse sind einerseits Außenseiter, die sich nicht an die Regeln halten, gleichzeitig Kapitalisten, die ohne Rücksicht auf menschliche Verluste nach Profit streben. Aber das, was wir von der kriminellen Unterwelt in der Popkultur sehen, ist oft eher auf das Publikum zugeschnitten als auf die Realität. Die Erzählungen sind vereinfacht, oft frauenfeindlich und nicht nuanciert genug.
Sie haben selbst ein Buch über Frauen in Drogenkartellen geschrieben. Wie werden diese Frauen dargestellt, und was ist ihre Rolle in der Realität?
Die Erzählungen über den Drogenhandel werden von Männern dominiert. Es gibt die Legenden von Pablo Escobar oder „El Chapo“. Ein gängiges Klischee über Frauen in den Kartellen ist das der Frau als Trophäe oder als Killerin mit dem goldenen Colt. Ich habe mich gefragt: Ist das wirklich so? Bei meinen Recherchen fand ich viele Fälle von Frauen, die hochrangige Mitglieder der Kartelle waren. Sie nehmen tragende Rollen in den Kartellen ein, von der Entscheidungsfindung bis zum Tagesgeschäft sind sie in alle Prozesse involviert.
„Bei den Nachbarn und Freunden von Digna Valle bin ich zusammen mit dem Bischof aufgetaucht, er machte mich mit ihrer Familie bekannt“
Wie haben Sie diese Frauen gefunden und ihr Vertrauen gewonnen?
Die erste Frau, auf die ich stieß, war Digna Valle, die Matriarchin des Valle-Kartells, wichtige Kokaintransporteure in Honduras. Von Strafverteidigern und Einwanderungsanwälten wurde ich auf andere Frauen aufmerksam gemacht. Während des Chapo-Prozesses in den USA las ich in den Prozessakten den Namen von Guadalupe Fernández Valencia. Sie war Chapos oberste Geldwäscherin und die ranghöchste Frau im Sinaloa-Kartell in Mexiko. So habe ich mich von Name zu Name gehangelt. Viele Frauen haben nicht persönlich mit mir gesprochen. Einige aber schon: Marixa Lemus konnte ich im Gefängnis treffen, weil ich mich mit einer NGO eingeschlichen hatte. Yaneth Vergara Hernández, eine Kolumbianerin, habe ich in den USA im Gefängnis besucht. Bei den Nachbarn und Freunden von Digna Valle bin ich zusammen mit dem Bischof aufgetaucht, er machte mich mit ihrer Familie bekannt. Die katholische Kirche wirkt auf mich dort wie eine Art Schiedsrichter zwischen Kartellen und Zivilgesellschaft. Die Priester haben manchmal eine besondere Stellung und können mit den Drogenbossen reden, weil einige von ihnen sehr religiös sind. Digna selbst habe ich dann per Videoanruf gesprochen.
Gelangen Frauen auf dieselbe Art in die Kartelle und Gangs wie Männer?
Viele werden von ihren Familien reingebracht, genau wie die Männer. Die Chapitos sind zum Beispiel nur wegen ihres Vaters Chapo Gúzman im Geschäft, nicht wegen besonderer Fähigkeiten oder Talente. Der Bruder von Guadalupe Fernández Valencia arbeitete mit ihnen zusammen, als er verhaftet wurde, übernahm sie seine Position. Digna Valle wurde in das Kartell hineingeboren. Sie war die älteste von 13 Geschwistern, und ihre gesamte Familie war im Kokaingeschäft.
„Menschen, die in eine bestimmte sozioökonomische Realität hineingeboren werden, vor allem in den ländlichen Gebieten Lateinamerikas, sind von Anfang an mit Gewalt konfrontiert“
Oft herrscht das Geschlechterklischee: Männer als Täter und Frauen als Ehefrauen oder Opfer.
Als ich an die Grenze zwischen Honduras und Guatemala fuhr, um mit Nachbarn und Mitarbeitern von Digna Valle zu sprechen, erzählten sie mir, wie großartig Digna sei, dass sie eine Kirche bauen ließ und alle sie liebten. Ich dachte mir: Vielleicht war sie die Gute des Kartells, weniger gewalttätig. Aber dann habe ich mit Asylbewerbern in den USA gesprochen, die aus dem Ort kamen. Sie erzählten, dass Digna Leute ermorden ließ, die mit den Behörden kollaborierten. Ihre Brüder entführten junge Mädchen aus dem Ort und vergewaltigten sie. Digna wusste davon und tat nichts dagegen, weil sie verstand, dass dies Teil der Strategie war, Angst zu erzeugen und die Menschen dazu zu bringen, mit ihrer Familie zu kooperieren.
Gehört Gewalt ganz selbstverständlich zum Kartellalltag?
Marixa Lemus gehörte zu einem Familienclan von Drogenhändlern. Sie soll drei Attentate auf den Bürgermeister angeordnet und befohlen haben, Leute zu entführen oder töten zu lassen. Als ich sie in Guatemala im Gefängnis traf, erzählte sie mir ganz offen davon, ohne Scham. Menschen, die in eine bestimmte sozioökonomische Realität hineingeboren werden, vor allem in den ländlichen Gebieten Lateinamerikas, sind von Anfang an mit Gewalt konfrontiert. Ein Menschenleben ist wenig wert, innerfamiliäre Gewalt sehr verbreitet. Die Frauen lernen früh, dass Gewalt ein Weg zur Selbstbestimmung ist. Es ist dann nicht so abwegig, sie selbst anzuwenden und sie an die eigenen Bedürfnisse anzupassen, ob in der eigenen Familie oder in einer größeren Organisation. Unser Verständnis von Geschlecht und den damit verbundenen Stereotypen macht uns in gewisser Weise blind dafür. Digna Valle, Marixa Lemus – alle teilen diese Biografie.
Wie sieht diese Biografie aus?
Im Mittelamerika der 70er- und 80er-Jahre bot der einsetzende Kokainhandel für viele eine Gelegenheit, um Geld zu verdienen und aufzusteigen. Die Valles zum Beispiel, Dignas Familie, verdienten ihr Geld, indem sie Zigaretten und Vieh über die Grenze schmuggelten. Später stiegen sie dann auf den Drogenhandel um. Wenn man Kokain über die Grenze bringt, verdient man bis zu 800.000 US-Dollar pro Tonne. Die Menschen ergreifen die Chancen, wenn sie sie bekommen.
Inwiefern ist Frausein in den Kartellen von Vorteil?
Ich glaube, dass Frauen als zuverlässig und vertrauenswürdig angesehen werden, was nützlich für die Korruptionsnetze ist – und ihnen eine besondere Stellung einbringt. Für Frauen in dem Geschäft ist das ein Vorteil und eine große Macht.
Hilft dieses Wissen, um den Drogenhandel besser zu bekämpfen?
In unserer Region ist der Drogenhandel sehr clan-, sehr familienbasiert. Frauen als diejenigen abzutun, die in der Küche stehen und die Soße umrühren, während die Männer über die Geschäfte reden, halte ich für eine gravierende Unterschätzung. Es ist ein Missverständnis der Art und Weise, wie der Drogenhandel funktioniert. Frauen sind in jeder Phase des Prozesses beteiligt – vom Anbau über den Vertrieb bis hin zu Entführungen und Morden. Wenn wir das verstehen, könnten wir uns in der Antidrogenpolitik von der sogenannten Kingpin-Strategie, also dem Ansatz, vor allem die großen Kartellbosse festzunehmen, lösen und endlich zu einem präventiven Ansatz gelangen. Es bringt nichts, nur die Bosse festzunehmen. Das hat in fünf Jahrzehnten des Drogenkriegs in Lateinamerika weder zu einer Verringerung der Drogentoten oder Schmuggelmenge noch zu einem Rückgang der Gewalt geführt. Die Drogenindustrie bietet vielen Familien auf der ganzen Welt Arbeit und Einkommen. Wenn wir die Zahl der Drogentoten senken wollen, dann müssen wir Dinge anders machen.
Deborah Bonella ist investigate Journalistin und Autorin. Sie wurde in Malta geboren, wuchs in Großbritannien auf und lebt und arbeitet heute in Mexiko Stadt. Ihr Buch „Narcas: The Secret Rise of Women in Latin America‘s Cartels“ erschien im Juli 2023.