Gaetano Manfredi, der Bürgermeister von Neapel, die nationale Schärpe in Grün-Weiß-Rot um den Körper, die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt, bekreuzigt sich im Dom der Stadt. Vor ihm hält der Erzbischof in seinen Händen eine Glasampulle mit einer dunkelroten Substanz. Es ist das heilige Blut von San Gennaro, dem Schutzpatron von Neapel. San Gennaro hat ein Wunder vollbracht, so glauben zumindest viele, wenn sich die feste Masse in der Ampulle wieder verflüssigt. Seit Jahrhunderten vollbringen Geistliche dieses sogenannte „Blutwunder“ Jahr für Jahr – und die Stadt atmet auf. Denn verflüssigte sich das Blut nicht, so heißt es, beschützt der Schutzpatron San Gennaro Neapel nicht mehr. Die Stadt müsse eine Katastrophe befürchten.
Ein Foto auf dem Facebook-Profil des Bürgermeisters, darauf auch das offizielle Logo der Stadt Neapel, zeigt eine Szene des vermeintlichen Wunders im Dom. Die Hoffnung auf ein Wunder als Katastrophenschutz. Das ist ein Weg.
Wer lieber den Pfad der Wissenschaft einschlägt – hier ein paar Hard Facts: Neapel und seine gut 900.000 Einwohner:innen befinden sich zwischen zwei Vulkanen, einem sichtbaren und einem unsichtbaren. Östlich beherrscht der Vesuv das Panorama der Stadt mit seinen gut 1.200 Metern Höhe. Westlich der Stadt liegen die Phlegräischen Felder (altgriechisch für „brennend“): eine Ansammlung von rund 40 Vulkanen, die insgesamt eine flache, bewohnte Fläche von rund 150 Quadratkilometern bedecken. Zusammen bilden sie eine Art Supervulkan.
Beide Vulkane sind aktiv: Unter der Erde bewegen sie Gase, noch tiefer unter den Gasen bewegt sich Magma. Die Frage ist nicht, ob es zu einem Ausbruch kommt. Die Frage ist, wann, darin sind sich die Expert:innen einig. Wie bereitet sich eine Stadt auf die nahende Katastrophe vor?
Neapel stützt sich auf nationale Notfallpläne. Einen für den Ausbruch des Vesuvs, einen für den des Supervulkans. Das Ergebnis beider Pläne: Evakuierung. Sollte der Vesuv-Notfallplan aktiviert werden, müssten rund 700.000 Menschen ihre Häuser verlassen. Denn sie leben in der sogenannten roten Zone, in der bei einem Vulkanausbruch offiziell Lebensgefahr besteht. Das Gebiet umfasst viele kleinere Städte und Gemeinden außerhalb von Neapel. In der Stadt selbst müssten Anwohner:innen aus den östlichen Vierteln evakuiert werden: diejenigen, die in der gelben Zone leben, einem Risikogebiet, auf das bei einem Vulkanausbruch Asche und glühende Steine fallen würden. Gefährlich, aber keine unmittelbare Lebensgefahr, so die Einschätzung der Zivilschutzbehörde.
Eine halbe Million Menschen lebt in der roten Zone
Viel gefährlicher für Neapel und Umgebung könnte ein Ausbruch der Phlegräischen Felder werden. Sie könnten laut Experten mit bis zu 80-facher Kraft des Vesuvs ausbrechen. Wie beim Vesuv geht man aber bei der Erstellung des Notfallplans nur von einem Ausbruch mittlerer Intensität aus. Nach Angaben des Zivilschutzes leben eine halbe Million Menschen in der roten Zone. Mehrere Stadtteile Neapels liegen darin. 800.000 weitere Bewohner:innen leben in der gelben Zone.
Die Evakuierungen würden gemäß den Plänen innerhalb von 72 Stunden stattfinden. Drei Tage vor einem Ausbruch, mit so viel Vorbereitungszeit rechnen die Behörden. Sie verlassen sich auf die Vorhersagen des Osservatorio Vesuviano, der lokalen Abteilung des italienischen Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie. Über 100 Mitarbeiter:innen beobachten die Aktivität der Vulkane. Der Hauptsitz des Osservatorio liegt inmitten der Phlegräischen Felder, der Kontrollraum ist rund um die Uhr besetzt. Ständig werten die Wissenschaftler:innen Gas- und Steinproben aus den Vulkanen, Daten von Messinstrumenten vor Ort sowie Satellitenbilder aus. Daraus berechnen sie die Gefahr, die von den Vulkanen ausgeht. Beim Vesuv ist die Lage ruhig. Die Phlegräischen Felder werden hingegen seit 2012 intensiver überwacht. Seit die Aktivitätssignale des Supervulkans zunehmen.
Das spüren auch die Menschen vor Ort inzwischen deutlich. Auf italienischen Nachrichtenportalen und in den sozialen Medien kursieren Fotos von Bauschutt und beschädigten Häuserfassaden. Videos von Anwohner:innen, die nachts auf der Straße stehen, weil sie sich in ihren Wohnungen unsicher fühlen. Seit Monaten erschüttern kleinere Erdbeben die Region von den Phlegräischen Feldern bis nach Neapel. Im September erreichte eines eine Stärke von 4,2 auf der Richterskala. Zu schwach, um Gebäude einstürzen zu lassen, stark genug, um sie zu schädigen und die Bewohner:innen nervös zu machen.
Grund für die Beben ist das Phänomen des Bradyseismos (griechisch für „langsame Bewegung“). Gase unter den Phlegräischen Feldern bahnen sich ihren Weg an die Erdoberfläche, lassen dabei den Boden vibrieren und heben ihn an. Ganze eineinhalb Zentimeter pro Monat. Als wäre das Gebiet ein Soufflé im Ofen.
„Die Vorhersage eines Vulkanausbruchs ist nicht wie die Vorhersage eines Gewitters“
Auch Giuseppe Mastrolorenzo wurde kürzlich mitten in der Nacht von einem Beben geweckt, seine Wohnung liegt im Westen Neapels, in der gelben Zone um die Phlegräischen Felder. Er arbeitet seit über 30 Jahren als Vulkanologe am Osservatorio Vesuviano. Mastrolorenzo kritisiert den Notfallplan: „Die Vorhersage eines Vulkanausbruchs ist nicht wie die Vorhersage eines Gewitters“, sagt er. Ein Naturphänomen wie Regen tritt häufig auf, es gibt viele wissenschaftliche Daten darüber, und es ist viel einfacher zu beobachten als das, was unter der Erde passiert. Deshalb ermögliche die Erforschung von Wetterphänomenen präzise Vorhersagen. Hingegen gebe es keine solide wissenschaftliche Grundlage dafür, dass er und seine Kolleg:innen einen Ausbruch des Supervulkans rechtzeitig vorhersagen können.
Der letzte Ausbruch der Phlegräischen Felder war im Jahr 1538, damals gab es noch keine Messungen. Laut Mastrolorenzo gebe es deshalb keine aussagekräftigen Vergleichsdaten. Man könne nicht mit Sicherheit sagen, wie sich der Supervulkan beim Ausbruch verhält. Schieße das Magma ohne Vorwarnung schnell nach oben, würde die Stadt unvorbereitet getroffen.
Neapel und seine Umgebung sind weltweit einzigartig: „Es gibt kein anderes Gebiet, in dem sich zwei Vulkane mit einer solchen Ausbruchskraft befinden“, sagt Mastrolorenzo. Auch wenn man zum Beispiel nach Papua-Neuguinea auf den Vulkan Tavurvur schaue, der von der Ausbruchskraft her mit den Phlegräischen Feldern vergleichbar sei, könne man die Gefahr nicht vergleichen, sagt er: Dort leben in der nächsten Kleinstadt einige Tausend Menschen, viel weniger als in Neapel und viel weiter vom Vulkan entfernt.
Mastrolorenzo plädiert dafür, einen neuen Notfallplan zu entwickeln, der keine Pufferzeit vorsieht, sondern eine schnelle Evakuierung auch während des Ausbruchs. Panikmache, sagen die Befürworter:innen des aktuellen Notfallplans. Darunter auch einige seiner Kolleg:innen vom Osservatorio Vesuviano, die durch die ständige Überwachung des Supervulkans an eine sichere Vorhersage des Ausbruchs glauben. Die Aufgabe des Osservatorio Vesuviano besteht darin, die Ergebnisse dieser Überwachung an das Ministerium für Zivilschutz weiterzuleiten, wo das daraus entstehende Risiko bewertet wird.
Mal angenommen, die Bürger:innen bekommen drei Tage vor dem Vulkanausbruch eine Alarm-SMS auf ihr Handy, die sie über den Beginn des Evakuierungsplans informiert: Ist der aktuelle Plan überhaupt durchführbar?
Diese Frage soll eine inzwischen mehr als vier Jahre alte Evakuierungsübung beantworten: An einem Tag im Jahr 2019 wurde eine begrenzte Anzahl von Häusern evakuiert, die vom Zivilschutz zufällig ausgewählt worden waren und deren Bewohner sich dazu bereit erklärt hatten. Viel weniger Menschen als im realen Szenario mussten dafür ihr Zuhause verlassen – und sie waren mehr als drei Tage vorher darüber informiert. Damals immerhin hat alles gut geklappt.
An der Aussagekraft dieses Testszenarios zweifelt man offenbar auch in Rom: Zivilschutzminister Nello Musumeci hat inzwischen angekündigt, an einem neuen Notfallplan zu arbeiten, der noch in diesem Jahr fertiggestellt werden soll.
Titelbild: Clement Mahoudeau/Riva Press/laif