Diese Geschichte über den Klimawandel beginnt im Oktober 2015 in einem völlig überheizten Raum eines Hotels in Lillehammer, Norwegen. Draußen ist es warm. Zu warm. Ein weißhaariger Mann beamt eine PowerPoint-Präsentation auf eine weiße Wand. Er hält einen Vortrag über Regen in den USA, es geht um Grönland und den Eispanzer. Ich werde müde. So müde, dass ich nicht mehr zuhören kann. Dass meine Gedanken abschweifen. Wenn die Gletscher schmelzen, wo geht das Wasser dann hin, frage ich mich. Fließt es die Berge hinab? In Flüsse? Irgendwann ins Meer? Und warum reden alle von den Malediven, die in 100 Jahren versinken? Wenn die Leute Angst um die Malediven haben, dann müssen wir doch Angst um Langeoog haben? Und was ist mit Sylt?
Ich wurde in dem norwegischen Keller etwas wacher. Überall entlang der Nordsee gibt es Pegel. Meterstangen im Boden, die messen, wie hoch die Flut steigt und wie tief die Ebbe fällt. Diese Daten an den Pegeln werden aufgezeichnet – seit etlichen Jahrzehnten. In Folianten mit Tinte und Blei, in Tabellen in Häfen, in Wachbüchern an Schleusen. Die Daten werden sorgfältig und gewissenhaft notiert. Sie sind wichtig für die Menschen an der Küste. Sie sichern ihr Leben, sie bestimmen die Höhe und Stärke der Deiche. Ich brauche die Daten der Pegel.
Die Kurven waren eindeutig: Der Meeresspiegel in der Nordsee steigt
Direkt nach meiner Rückkehr nach Deutschland machte ich mich an die Arbeit. Gemeinsam mit meinen Kollegen vom Recherchezentrum correctiv.org besorgte ich die Daten aller Pegel an der Nordsee bei der Pegeldatenbank der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV). Einige Daten gibt es nicht, sie sind in den Kriegen verschwunden. Andere sind noch nicht aus den Büchern in digitale Tabellen überführt. Ein paar Pegel sind verschwunden, andere hinzugekommen. Schließlich aber, nach wochenlangem Hin und Her, konnten wir 32 Messstellen entlang der deutschen Küste auswerten – mehr als drei Millionen Datensätze. Die ältesten mehr als 100 Jahre alt, die frischesten wenige Monate. Genug für uns.
Um anhand der Daten langfristige Trends zu beobachten, haben wir Mittelwerte aus den höchsten Wasserständen jeder Flut über ein Jahr beziehungsweise fünf Jahre gebildet. Natürlich können wir auf diese Art und Weise nicht genau den durchschnittlichen Anstieg des mittleren Meeresspiegels bestimmen. Aber das wollten wir auch nicht. Wir wollten nur erkennen, ob man einen kontinuierlichen Anstieg des Wassers entlang der gesamten Nordseeküste sichtbar machen kann. Genau für diese Betrachtung war unsere Methode geeignet.
Die Kurven auf unseren Rechnern waren eindeutig: Der Meeresspiegel in der Nordsee steigt seit mehr als 100 Jahren. Seit Ende der 70er-Jahre beschleunigt sich der Anstieg noch mal deutlich. Am Pegel Hörnum auf Sylt stieg das Wasser zum Beispiel von etwa 5,80 Meter im Jahr 1951 auf über 6 Meter im Jahr 2014; am Pegel Mellumplate von 6,25 Meter im Jahr 1971 auf 6,47 im Jahr 2014; am Pegel Norderney Riffgat von 6,08 im Jahr 1971 auf 6,23 im Jahr 2014.
Professor Jürgen Jensen, Leiter des Lehrstuhls für Hydromechanik der Universität Siegen, sagt: „Wir beobachten derzeit einen beschleunigten Anstieg des Trends.“ In einer Studie, die Jensen mit Kollegen 2011 veröffentlicht hat, schreibt er: „Die zuletzt aufgezeichneten Steigerungsraten des Meeresspiegels sind die höchsten, die je beobachtet wurden.“ Jensen warnt allerdings vor voreiligen Schlüssen. „Wir wissen auch, dass es früher ähnliche Phasen gab. Wir können deswegen noch nicht sagen, ob es sich aktuell schon um die Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs handelt, die Klimaforscher für das 21. Jahrhundert erwarten.“ Derzeit schätzt der Wissenschaftler, dass rund 50 Prozent des beobachteten Anstiegs bereits auf den von Menschen gemachten Klimawandel zurückzuführen sind. Wie sehr sich die Entwicklung aufgrund der steigenden Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre verstärken wird, ist noch offen, sagt Jensen: „Wir wissen, dass der Anstieg des Meeresspiegels zeitlich verzögert zu Klimaänderungen auf der Erde einsetzt. Er hat einen gewissen Nachlauf.“ Was der Wissenschaftler sagt, heißt übersetzt: Es kann alles noch viel heftiger werden. Und das ist wahrscheinlicher, als dass es glimpflich abgeht.Ich habe danach bei Wissenschaftlern angerufen und Studien gelesen. Es ist überall auf der Welt das Gleiche. Das Meer kommt. Es steigt. Unaufhaltsam. Die Mengen an Wasser, die bewegt werden, sind gigantisch. Milliarden Tonnen Eis schmelzen ab. Sie werden zu Wellen und stürzen auf unsere Deiche. Tragen Dünen ab und Sandbänke, brechen unsere Küsten. Jacobus Hofstede, Wissenschaftler im Umweltministerium Schleswig-Holstein, sagt: „Über alle Messpunkte betrachtet ist ein Anstieg des Meeresspiegels zu beobachten.“ Diese Aussage treffe für alle Pegel an der Ost- und Nordsee zu. Auf ein Jahr gerechnet sei der Anstieg mit weniger als drei Millimetern gering. In den kommenden Jahrzehnten rechnet Hofstede allerdings mit einem Anstieg von bis zu 50 Zentimetern. Sein Bundesland kämpft um die Deiche. Erhöht, was zu erhöhen ist. Auf über 150 Kilometern wird gearbeitet. Stein um Stein. Immer gegen das Meer.
Nackte Zahlen: Beweise für die ungeheure Gewalt des Meeres
Jacobus Hofstede vom Umweltministerium Schleswig-Holstein schreibt in seiner Studie: „Hinsichtlich des Küstenschutzes ist die Situation ernst“. Sollte sich der Anstieg auf drei oder gar fünf Millimeter pro Jahr verstärken, „muss spätestens in einigen Jahrzehnten mit verstärktem Küstenabbruch gerechnet werden.“ Sollte der Anstieg noch heftiger ausfallen, würde das Wattenmeer Schaden nehmen. Die gesamte deutsche Küste würde sich verändern. Einfacher gesagt: Halligen tauchen unter. Inseln wie Langeoog und Borkum werden überflutet. Manche Inseln verschwinden vielleicht sogar völlig und mit ihnen die Städte und Dörfer darauf. Wie damals die Stadt Rungholt im Sturm auf der Insel Strand, die mit unterging.
Nach unserer Recherche schaue ich mir die Daten immer mal wieder an. Und gehe mit dem Mauszeiger über die Kurven: Nackte Zahlen. Nackte Daten. Nackte Beweise. Für eine ungeheure Gewalt, die niemand kontrollieren kann. Für ein Meer, das auf der ganzen Welt, überall in jedem Ozean, an jeder Küste über die Ufer tritt. In der Nordsee, in der Karibik, im Mississippi-Delta, im Kongo, in Kalkutta, in Vietnam, am Mekong. Überall. Wir müssen aus unserem Wissen Konsequenzen ziehen. Dann kann alles noch gut werden. Wenn wir bessere Deiche bauen, höhere Flutwehre und unser Wissen teilen. Und möglichst viel gegen den Klimawandel unternehmen.
David Schraven leitet das Non-Profit-Recherchezentrum correctiv.org, das sich ausführlichen Hintergrundberichten und Reportagen widmet. Es finanziert sich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Zu den regelmäßigen Unterstützern gehören mittlerweile 800 Bürgerinnen und Bürger sowie Stiftungen wie die Brost-Stiftung oder die Bundeszentrale für politische Bildung. Correctiv.org ist nicht gewinnorientiert.