Noch in der Nacht kam der Anruf: Piet, we need your help! Es war der 29. August 2005, der Hurrikan Katrina traf auf das nordamerikanische Festland und überschwemmte New Orleans – eine der verheerendsten Naturkatastrophen in der Geschichte der USA.
„Innerhalb von 24 Stunden waren wir im Großeinsatz“, sagt Piet Dircke. Genau einen Tag zuvor hatte sein Arbeitgeber Arcadis, ein niederländisches Ingenieur- und Beratungsbüro mit weltweit 27.000 Mitarbeitern, einen Rahmenvertrag für den Hochwasserschutz in New Orleans abgeschlossen. Jetzt sollten sie die Katastrophe managen. Sie inspizierten Fluttore, Sperrwerke und Pumpen. Sie gingen die Deiche ab und suchten nach winzigen Tunneln, die das Wasser hineinfrisst „wie ein kleines Wühltier, das sich durch die Erde gräbt“.
Als das Wasser aus der Stadt war, sollte Arcadis einen Schutzpanzer um New Orleans errichten. Mit zehn Leuten fingen die Niederländer an, bald waren es weit über 300. Kilometerlang bauten sie Deiche, Schutzmauern, Fluttore. Und die größte Pumpstation der Welt mit elf dieselbetriebenen Pumpen, die in weniger als vier Sekunden so viel Wasser aus der Stadt schaffen können, wie in ein Olympia-Schwimmbecken passt. Ein Mammutprojekt, von dem man dachte, dass man dafür 20 Jahre brauchen werde, realisierten die Niederländer in rund fünf.
Kaum eine Nation hat so viel Erfahrung mit dem Hochwasserschutz
Auch andere Städte und Länder buchten Dircke und sein Team: San Francisco, New York, Dhaka, Schanghai, Thailand, Indonesien und viele weitere. Dirckes Dienstsitz verlagerte sich von Rotterdam ins Flugzeug. Vor ein paar Monaten, er war gerade auf dem Rückflug von Houston, kam der Pilot zu ihm an den Platz und gratulierte zur millionsten Flugmeile.
Kaum eine Nation hat so viel Erfahrung im Umgang mit Hochwasserschutz, Gezeiten und Überschwemmungen wie die Niederlande. Verheerende Sturmfluten wie die von 1953, als über 1.800 Menschen starben, sind im kollektiven Gedächtnis verankert. Ein Viertel des Landes liegt unterhalb des Meeresspiegels. Über Jahrhunderte haben die Niederländer es den Fluten abgerungen. Sie haben Deiche aufgeschüttet, Sperren errichtet, Kanäle und Grachten gegraben. Ihre berühmten Windmühlen dienten nicht wie fast überall sonst in Europa zum Mahlen von Korn – sie trieben in Zeiten, als es noch keinen Strom gab, Pumpen an, um das Wasser wegzubekommen.
Und jetzt, da der Klimawandel das Meer steigen lässt, herrscht bei manchen Aufbruchstimmung: Niederländer wie Piet Dircke sehen sich als diejenigen, die die Technik für die Zukunft haben. Sie wollen jetzt die Deichbauer der Welt werden.
Dircke sitzt im Café des Hotels „New York“ in Rotterdam, ein Art-déco-Bau an der Spitze einer Landzunge, eingerahmt von modernen Hochhäusern. Er klappt den Laptop auf und klickt sich durch eine Präsentation, die er vor ein paar Wochen in Honolulu gehalten hat. Den Hawaiianern hat er gezeigt, wie die Niederländer inzwischen Deiche bauen, das Projekt „Dakpark“ hier in Rotterdam zum Beispiel. Nicht irgendein Deich sei das. „Das ist ein multifunktionales System!“, ruft er. In dem Damm gegen das Wasser haben die Niederländer Läden und ein Parkhaus untergebracht und obendrauf einen Park, der sich allmählich zur Stadt hin absenkt.
Wo der Boden asphaltiert und versiegelt ist, kann das Wasser nicht weg
Ein paar Meter von Dirckes Hotel entfernt hat Johan Verlinde sein Büro, im 16. Stockwerk eines gläsernen Büroturms. Er arbeitet für das Klimaanpassungsprogramm der Stadt – mit so cleveren Ideen, dass sich inzwischen die ganze Welt dafür interessiert. Wenn man sehen will, wie Rotterdam dem Klimawandel trotzt, folgt man ihm am besten direkt in die Stadt, natürlich auf den dienstfietsen, den Dienstfahrrädern, die in der Garage der Stadtverwaltung parken.
Über die Erasmusbrücke geht es über die Nieuwe Maas, einen der breiten Ströme, die das Rhein-Maas-Delta bilden. Nach der Brücke fällt das Treten leichter, und Verlinde dreht sich um und ruft: „Jetzt geht es unter den Meeresspiegel!“ Die Straße, auf der wir fahren, war einmal ein Kanal, erklärt er. Ab 1913 wurde er aufgefüllt und in eine Straße für den zunehmenden Verkehr verwandelt, so wie fast alle anderen Kanäle der Stadt.
Aus heutiger Sicht war das keine gute Idee, sagt Verlinde. Wo der Boden asphaltiert und versiegelt ist, kann das Wasser nicht weg – eine gefährliche Situation für eine Stadt, die sich zu über 80 Prozent unter dem Meeresspiegel befindet und in der infolge des Klimawandels immer mehr Starkregen vom Himmel kommt. Das Wasser droht sich zu sammeln wie in einem Topf, in dem Hunderttausende Menschen leben.
Wir erreichen den Benthemplein, ein Platz nördlich des Bahnhofs mit ausgeklügeltem Wassermanagement. Stufen führen hinunter zu einer Skatebahn mit blauen Markierungen. An einer anderen Stelle ist ein Basketballfeld in den Boden eingelassen. Die Sportplätze sind aber nicht der eigentliche Zweck der tiefergelegten Flächen: Sie dienen als Becken. Regnet es, fließt das Wasser von den Dächern der umliegenden Gebäude durch kleine Rinnen im Boden hinein. Früher, vor dem Umbau, war der Platz regelmäßig überschwemmt. Heute können die Becken 1,7 Millionen Liter auffangen – in etwa die Menge, die an einem starken Sommerregentag auf den Benthemplein niederprasselt, sagt Johan Verlinde.
Das Wasser nicht nur abhalten, sondern auch besser verteilen und ableiten
Er geht die fünf Stufen hinunter auf die Skatebahn. An ihrem Rand ist ein kleiner Schlitz in den Boden eingelassen, wie in einem Schwimmbad. Durch ihn fließt das Wasser weiter in ein unterirdisches Reservoir. Dies, erklärt Verlinde, hat einen porösen Boden, „so als ob es mit Getränkekisten gepflastert wurde“. Durch diese Löcher kann das Wasser versickern. Denn das niederländische Wassermanagement setzt längst nicht nur auf „harten Küstenschutz“ in Form von immer höheren Deichen, sondern auch auf Maßnahmen, die das Wasser besser verteilen und ableiten.
Von Wasserplätzen wie dem Benthemplein gibt es inzwischen einige in der Stadt. Und dazu den größten unterirdischen Wasserspeicher der Niederlande mit einem Fassungsvermögen von zehn Millionen Litern – gut versteckt unter einem Parkhaus. In Rotterdam leben fast 2.000 Menschen pro Quadratkilometer. Der Raum ist begrenzt, also ist man erfinderisch geworden. Aber die Niederländer sind nicht nur clever darin, das Wasser auf Abstand zu halten. Inzwischen nutzen sie es sogar als Baugrund.
Amsterdam, knapp 60 Kilometer nördlich von Rotterdam: Der Immobilienentwickler Ton van Namen führt durch IJburg, ein neu geschaffenes Stadtviertel dort, wo vor 20 Jahren nur Wasser war. Es wurden Inseln und Dämme aufgeschüttet und Häuser und Straßen daraufgesetzt. Das größte Experiment aber sind die schwimmenden Häuser, die van Namen entwickelt hat: grau-weiße Kästen mit Fenstern, drei Geschosse, in einer Werft gefertigt, mit Schiffen hierhergezogen und an Stegen verankert. An den Terrassen liegen Boote, Schwimmleitern führen ins Wasser. Gut 90 Häuser sind bereits fertig, etwa 70 weitere sollen noch dazukommen.
Häuser bauen, die schwimmen können
Über Stege geht van Namen zwischen den Häusern entlang. Rettungsringe hängen am Geländer, Fahrräder sind angelehnt, die Bewohner haben an den Seiten Blumenkübel aufgestellt. Van Namen deutet aber auf ein anderes Detail: Ein kleiner roter Hahn lugt von der Unterseite des Steges hervor. Ein brandkraan. Ein Hydrant.
Das zeigt, zu welch absurden Situationen es führen kann, wenn man auf dem Wasser baut, aber sich an Regeln halten muss, die noch für Häuser auf festem Grund erdacht wurden. Der Brandschutz, sagt van Namen, lege fest, dass ein Feuer in Amsterdam mit Leitungswasser gelöscht werden müsse. „Es gab einmal einen kleinen Brand in einer der Küchen“, erinnert er sich. Als die Feuerwehrleute kamen, haben sie selbstverständlich lieber schnell eine Pumpe ins IJmeer geworfen.
Könnte man denn auch einen Wolkenkratzer aufs Wasser setzen? Sicher, bestätigt van Namen. Wenn es tief genug ist. „Kreuzfahrtschiffe sind im Prinzip schwimmende Hochhäuser.“ Man müsste allerdings viel Technik aufbieten, um sie in der Balance zu halten. Sonst werden die Bewohner sofort seekrank. Manchen Interessenten, sagt van Namen, habe das auch vom Kauf eines der schwimmenden Eigenheime abgehalten: Die Häuser bewegen sich. Wenn sie ein Bücherregal verschieben, berichteten Bewohner, kippe das ganze Gebäude. Minimal vielleicht nur, aber man merke es daran, dass sich plötzlich Schubladen öffnen oder das Wasser in der Dusche den Abfluss nicht mehr findet. Ein paar Probleme haben eben auch die niederländischen Zukunftsplaner noch zu lösen.
Schätzungsweise leben mehr als 200 Millionen Menschen in Küstengebieten, die weniger als fünf Meter über dem Meeresspiegel liegen. Diese Zahl soll sich bis 2100 mehr als verdoppeln – speziell Megametropolen in Küstennähe und an Flussdeltas wachsen rasant. Weniger als 20 Meter über dem Meeresspiegel leben heute sogar schon eine Milliarde Menschen: 127 Millionen davon in China, auch in Indien, Bangladesch, Indonesien und Vietnam sind jeweils über 40 Millionen Menschen betroffen. In den Niederlanden sind es fast zehn Millionen Menschen – das sind knapp 60 Prozent der Bevölkerung.