Herr Saviano, weil Sie ein Buch geschrieben haben, müssen Sie mit drei Leibwächtern zum Interview kommen. Haben Sie sich daran schon gewöhnt?
Irgendwie schon. Ich werde seit etwa einem Jahr von drei Carabinieri vierundzwanzig Stunden am Tag bewacht. Möchte ich irgendwohin gehen, machen meine Leibwächter vorher einen Erkundungsgang. Irgendwann lebt man mit den Leibwächtern in einer Art Symbiose. Sie verbringen mehr Zeit mit mir als mit ihren Familien.
Was vermissen Sie am meisten?
Ich würde gern spazieren gehen, in meinen Lieblingsrestaurants essen. Im Stadion war ich auch schon lang nicht mehr, obwohl ich großer Fan des SSC Neapel bin.
Haben Sie Angst?
Nein, ich hatte nicht einmal in Deutschland Angst, wo auf einer Lesung in Berlin im Publikum viele Camorristi mit ihren Anwälten saßen.
Woran haben Sie diese erkannt?
Sie haben sich vorgestellt, und sie kommen immer wieder, um mich bei Ungenauigkeiten zu ertappen: Spreche ich beispielsweise vom „Mafioso Schiavone“, könnte Nicola Schiavone mich anzeigen, weil er noch nicht verurteilt wurde.
Lassen Sie das Publikum wissen, dass die Camorristi im Saal sitzen?
Ja, manchmal begrüße ich sie sogar.
Wir wollen über Solidarität sprechen. Solidarisieren sich Menschen in dieser schwierigen Lage mit Ihnen?
Ja, besonders meine Leser. Zwei Homepages wurden gegründet, um mir ihre Solidarität zu zeigen, sechstausend Unterschriften gesammelt, ich habe Hunderte von Briefen bekommen. Eine Sekte aus der norditalienischen Stadt Cueno geht sogar so weit, mich als ihren Propheten zu bezeichnen. Mich erkennen Menschen auf der Straße und umarmen mich. Es kommt aber auch vor, dass ich auf der Straße beschimpft werde. „Du Idiot, du hast mit der Mafia Geld gemacht.“
Was ist mit Ihrer Familie und Ihren Freunden?
Viele Freunde habe ich verloren, nicht weil sie Angst hatten, sondern weil es für sie immer schwieriger wurde, mit meiner öffentlichen Rolle umzugehen. Sie mussten immer über mich reden, Fragen zu mir beantworten. Meine Familie musste enormen Druck aushalten. Mein Bruder ist nach Norditalien ausgewandert, und meiner Mutter wurde auf sehr subtile Art nahegelegt umzuziehen: Nachbarn haben mit einem Schreiben die Gemeinde aufgefordert, ihr einen sichereren Wohnort zu verschaffen. Momentan wird unsere Wohnung rund um die Uhr überwacht, es wäre sicherlich einfacher fortzuziehen. Aber das würde bedeuten, sich geschlagen zu geben.
Fühlen Sie sich von der Politik ausreichend geschützt und moralisch unterstützt?
Die Regionalpolitik hat mich im Stich gelassen. Auf nationaler Ebene war man anfangs reserviert, aber das ist mit der Zeit besser geworden. Unterstützt fühle ich mich insbe-sondere vom Parlamentspräsidenten Fausto Bertinotti. Er ist ein Jahr nach der Veröffentlichung von Gomorrha mit mir nach Casal di Principe gereist, meinem Heimatort, zur Eröffnung des neuen Schuljahrs. Und meinen Personenschutz hat mir der Innenminister Giuliano Amato persönlich zugesichert, wodurch alles beschleunigt wurde.
Ist das ein neuer Stil in Italien – diese Solidarität mit Ihnen?
Nein, auch vergangene, wegen ihrer Korruption berüchtigte Regierungen haben bedrohte Personen sehr unterstützt: Die Regierung Andreotti hat zum Beispiel den Richter Falcone (ein Mafia-Jäger in den Achtzigerjahren, der 1992 ermordet wurde, d. Red.) unermüdlich geschützt. Das sind die italienischen Widersprüche.
Die Solidarität mit Ihnen ist nur notwendig, weil die Camorra so stark ist. Was kann denn der Einzelne tun, um diese Macht zu brechen?
Die Alten zitieren gern den Satz von Kennedy: „Frage nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern frage, was du für deinen Staat tun kannst.“ Das ist schön und gut, aber persönliches Engagement muss auch vom Staat unterstützt werden. Als Antonio Bassolino 1993 Bürgermeister wurde, war das so – da gab es in Neapel die Phase der „Wiedergeburt“, die Dinge veränderten sich: Die Piazza Plebiscito war auf einmal sauber, man kämpfte gegen die Clans, die Neapolitaner fingen an, korrekt zu parken, und man sprach über Neapel nicht mehr nur in Verbindung mit der Camorra.
Solidarität verbindet Menschen nicht nur auf der Seite des Guten – auch die Mafia profitiert von Solidarität. Wie kommt es dazu?
Ihr gelingt es, einen Konsens zu schaffen, der aus dem Unbehagen herrührt, beschrieben und beobachtet zu werden. Ein Beispiel: Wenn ein Journalist in eine Stadt geht und die Menschen auf der Straße über ihren Alltag fragt, beschweren sie sich meistens über den Verkehr, den Stress, irgendetwas. Als aber die Presse nach Casal di Principe kam und dort die gleichen Fragen stellte, war die Reaktion eine ganz andere: „Geht weg, das ist hier ein ruhiger Ort, uns geht es gut, wir brauchen nichts.“ Und in Scampia, einer anderen Camorra-Hochburg, war es genauso.
Die Einwohner verteidigen ihr Viertel.
Weil keiner lesen will, dass er in einem üblen Viertel oder einer Mafiahochburg wohnt.
Aber die Solidarität geht ja weiter. Warum verrät fast niemand einen Camorrista?
Einerseits bringt die Camorra viel Geld in Umlauf. Andererseits verabscheuen die Leute nur die blutrünstigen Bosse – ihnen erweisen sie keine Solidarität, sondern hüllen sich in Schweigen und verschließen sich. Jene Bosse dagegen, die kein Blut fließen lassen, werden sehr geschätzt, sie faszinieren. Das ist auch der Grund, warum es noch nie einen Aufstand gegen die Bosse gab.
Dafür Aufstände, wenn ein Boss verhaftet wurde...
Das sind allerdings oft nur Finten. Damit will man signalisieren, dass man ihn nicht verraten hat. An einigen Orten gibt es meiner Meinung nach eine Art Recht auf die omertà, die mitwissende Verschwiegenheit. Die Menschen haben Angst und werden von keinem geschützt. Ihr Leben ist in Gefahr, und sie verteidigen sich deshalb auf diese Art.
Macht Schweigen einen aber nicht auch irgendwie schuldig?
Hier von Mitverantwortung zu sprechen ist leicht. Aber allein ist es unmöglich, gegen gewisse Mächte anzutreten. Noch bevor Schüsse fallen, kommen die Ausgrenzung und die Schikanen in der Arbeit – Dinge, die für die Presse uninteressant sind, weil sie kein Aufsehen erregen. Die Camorra hat dein Leben fest im Griff, schon lange bevor sie dich umbringt.
Ihnen wird vorgeworfen, die Mafia als etwas Faszinierendes beschrieben zu haben.
Ich gebe zu, dass ich diese Faszination nicht nur verstehen kann, ich bin ihr teilweise auch erlegen. Ich wollte diese Anziehungskraft untersuchen und sie demontieren, ich wollte die Mafia nicht einfach als Ursprung des Bösen beschreiben. Wir haben früher die Schule geschwänzt, um die Camorra-Prozesse zu verfolgen. Um uns dazu zu bringen, wieder in die Schule zu gehen, wurden die Bildschirme so hingestellt, dass nur das Gericht und nicht das Publikum die Videokonferenz mit den Bossen sehen konnte – so weit ging das. Die Bosse strahlen eine epische Faszination aus in einem Zeitalter, in dem die Politiker und Großunternehmer nichts Heldenhaftes mehr haben. Malcom X war ein Held, Agnelli auch, wer ist aber heute geblieben? Berlusconi und andere Unternehmer besitzen nicht die Aura, die sich die Bosse mit wenigen, sparsam eingesetzten Auftritten und besonders ihrer Lebensweise verschafft haben, die sie sich übrigens nicht selten aus Filmen abgeschaut haben.
Können Sie hierfür Beispiele nennen?
Als Cosimo Di Lauro verhaftet wurde, riefen die Jungen an der Straße: „The Crow! The Crow!“, weil er sich wie die Hauptfigur des gleichnamigen Films anzieht. Ein anderer Boss, Nicola Schiavone, der alte Pate meines Heimatortes Casal di Principe, hat sich eine Villa gebaut, die identisch mit der von Tony Montana in Scarface ist. Die Camorristi haben das Image von Gewinnern, es sind Männer, die keine Angst vor dem Tod haben. Ohne Risiko reich zu werden ist nicht so attraktiv. „Du bist reich ohne Risiko“ – dieser Satz gilt in Scampia als Beleidigung. Für die jüngere Generation sind die Verbrechen ein weiterer Grund für die Faszination.
Wie das?
Die Camorra hat spektakuläre Morde zu ihrem Programm gemacht. Da wird in die Luft geschossen oder mit der Handfläche parallel zum Boden, wie in den amerikanischen Filmen. Die Spezialisten vom Erkennungsdienst haben mir erzählt, dass seit Quentin Taran-tinos Filmen keiner mehr auf traditionelle Weise von unten nach oben schießt – so gibt es viel mehr Blut und Kugeln. Normal schießen heute nur noch die Dilettanten.
Kann ein Buch dieser Faszination wirklich gefährlich werden?
Welche Wirkung Worte haben, konnte man in letzter Zeit mehrmals sehen. Die russische Journalistin Anna Politkowskaja beispielsweise wurde auf einmal sehr gefährlich, weil sie mit dem Tschetschenien-Problem an die internationale Öffentlichkeit getreten ist. Worte wirken explosiv, weil derjenige, über den man berichtet, nicht mehr verborgen bleibt. Ein anderes Beispiel für die Macht der Worte: Vor dem Mord an dem Gewerkschafter Federico Del Prete erstellte der Clan der Catanesi eine Art Umfrage, um herauszufinden, wie die nationalen Medien darüber berichten würden. Als sie sich sicher waren, dass es kein Echo geben würde, wurde Federico Del Prete liquidiert.
Wieso sind Sie eigentlich nicht in die Mafia eingetreten?
Meine Mutter ist Chemikerin, ich komme aus einer Familie, die sehr an die Wissenschaft und an ein zivilisiertes Zusammenleben glaubt.
Auch sehr gebildete Menschen machen Karriere in der Mafia.
Stimmt. Der wirkliche Grund ist, dass ich die Camorra von Anfang an gehasst habe.
Warum?
Weil es viel Blut gab, weil du nichts wert warst, wenn du nicht alles aufs Spiel setzen konntest. Es ging so weit, dass nicht einmal die Frauen dich ansahen, wenn du kein Camorrista warst.
Ein Grund mehr einzutreten.
Es kommt darauf an. Ich war einerseits sehr neugierig, andererseits spürte ich, dass das nicht mein Weg war, weil ich auf vieles hätte verzichten müssen, vor allem auf meine Familie. Und was noch hinzukommt: Die Vorstellung des Todes widert mich an. Wer in einen Clan eintritt, rechnet mit dem eigenen Tod, er lebt mit der Vorstellung des Todes.
Das war Ihnen als Jugendlichem tatsächlich schon so klar?
Es ist eine Frage des Instinkts, etwas, das aus dem Bauch heraus kommt – so wie man auch zum Fan einer Mannschaft wird. Es ist auch sehr wichtig, aus welcher Familie man kommt, ob sie besitzgierig ist, Autos und Häuser haben möchte und dich in diese Richtung verleitet. Ich bin zudem nicht in einem armen Viertel geboren, in dem 200 000 Lire im Monat dein Leben verändern konnten.
Was ist für Sie der beste Film über die Mafia?
Ein im Ausland unbekannter, jedoch in Italien sehr beliebter Film, Il Camorrista von Giuseppe Tornatore, der vom neapolitanischen Camorraboss Raffaele Cutolo und dessen Clan handelt. Ich kenne ihn auswendig. Scarface gefällt mir mehr wegen seiner Ästhetik und der Fähigkeit, die Wut zu schildern. Unter den Fernsehfilmen ist meine Nummer eins die amerikanische Fernsehserie The Sopranos.
Fühlen Sie sich eigentlich als Held?
Ich betrachte mich weder als Helden noch als Kämpfer gegen die Mafia. Ich bin einfach ein Schriftsteller.
Wo verbringen Sie Weihnachten?
Zu Hause.
Das werden auch die wissen, die Sie nicht besonders lieben.
Schon. Aber meine Leibwächter sind bei mir.
Der italienische Journalist und Schriftsteller Roberto Saviano, 28, ist gebürtiger Neapolitaner. Sein 2006 erschienener, mehrfach ausgezeichneter Roman »Gomorrha« (Piper Verlag) beschreibt die Geschäfts-praktiken der Camorra, ihre Vernetzung mit legalen Unternehmen und der Politik. Wegen Morddrohungen steht Saviano seit einem Jahr unter Polizeischutz und lebt an verschiedenen Orten in Italien.
Blutsbrüder
Der Autor Roberto Saviano hat ein Buch über die Camorra geschrieben. Jetzt lebt er unter Polizeischutz. Ein Gespräch über wahre Freunde und die Solidarität der Mafia.
- 9 Min.