Am Whiteboard stehen drei Worte: „Ich bin gegangen“. Marina verdreht die Augen, Inna stöhnt: „Nicht wieder Perfekt.“ Es ist neun Uhr, an einer Volkshochschule in Nordrhein-Westfalen hat gerade ein Integrationskurs begonnen. „Da müssen wir jetzt durch“, sage ich und beginne, das Wort „bin“ grün einzukreisen, „ge“ und die Endung „en“ rot zu unterstreichen. Ich weiß, dass wir das Perfekt bereits gestern, vorgestern und vorvorgestern besprochen haben, und ich weiß, dass leistungsstarke Teilnehmende wie Marina längst begriffen haben, wie es gebildet wird. Doch wenn ich mich im Raum umblicke, sehe ich auch Augen, die das Geschriebene anschauen, als würden sie es zum ersten Mal sehen. Integrationskurse sollen dafür sorgen, dass sich Migranten im Alltag verständigen und am Leben in der deutschen Gesellschaft teilhaben können. Ein Ziel, das alle erreichen sollen – ich erkläre die Vergangenheitsform also nochmal.

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Echter Perser, gläubiger Moslem, neuer Deutscher – so gut kann das alles zusammen passen (Foto: dpa/picture-alliance)

Echter Perser, gläubiger Moslem, neuer Deutscher – so gut kann das alles zusammen passen

(Foto: dpa/picture-alliance)

Echter Perser, gläubiger Moslem, neuer Deutscher – so gut kann das alles zusammen passen

Ein allgemeiner Integrationskurs besteht aus einem Sprachkurs mit 600 und einem Orientierungskurs mit 60 Unterrichtsstunden. In diesem sogenannten „O-Kurs“ werden Kenntnisse über die deutsche Rechtsordnung, Geschichte und Kultur vermittelt. Das Aufenthaltsgesetz regelt, ob ein Migrant am Integrationskurs teilnehmen darf oder sogar dazu verpflichtet werden kann (siehe Infokasten). Im Regelfall sitzen zwischen 18 und 22 Teilnehmende in einem Kurs, die Maximalzahl beträgt 25. Dass sie oft aus den verschiedensten Ländern und Kulturen kommen, spielt für den Unterricht – vor allem den Sprachunterricht – eine geringere Rolle, als oft vermutet wird. Weitaus stärker machen sich die unterschiedlichen Bildungshintergründe bemerkbar. Während manche nur wenige Jahre zur Schule gegangen sind, ist für andere Deutsch schon die dritte Fremdsprache, die sie erlernen. Hinzu kommt die Altersspanne der Teilnehmenden, die auch schon einmal von 17 bis 60 Jahren reicht. Diese extrem heterogenen Lerngruppen sind nicht nur für die Lehrkräfte eine echte Herausforderung.

„Manchmal ist es schwer, einfach mit der Konjugation eines Verbs weiterzumachen“

Während die 29-jährige Marina längst mit den Übungen zur Bildung des Perfekts begonnen hat, bin ich noch damit beschäftigt anderen zu erklären, dass die Übung nicht auf Seite 15, sondern 50 zu finden ist. „Ich brauche nicht zehnmal zu hören, dass es ‚Ich bin gegangen‘ heißt. Ich will weiterkommen. Es gibt doch noch so viel anderes zu lernen“, klagt Marina, die in Griechenland groß geworden ist. Auch Inna, die neben Marina in meinem Kurs sitzt, bringt nicht immer die Geduld für die anderen Teilnehmenden auf. „Manche brauchen Einzelunterricht, damit sie irgendwann Deutsch sprechen können“, sagt die 44-Jährige. Um wirklich alle mitzunehmen und allen gerecht zu werden, ist es mit einfachem Frontalunterricht und der Arbeit mit einem Lehrbuch nicht getan. Es braucht individuelle Förderung. Allerdings erfordert das viel Zeit in der Vorbereitung. Zeit, die die meisten Lehrkräfte nicht haben. Denn sie leiten nicht nur einen Kurs. Häufig übernehmen sie eine Vielzahl von Kursen, um sich finanziell über Wasser zu halten.

Die Mindestvergütung von Honorarlehrkräften liegt bei gerade mal 20 Euro pro Unterrichtsstunde. Von diesem Gehalt müssen Renten- und Krankenversicherung selbst finanziert und Geld für die unbezahlten Urlaubs- und Krankentage zurückgelegt werden. Einen Kündigungsschutz gibt es nicht, nur befristete Verträge für jeden zu absolvierenden Kurs. Dabei gehen die Lehrkräfte nach dem Unterricht nicht direkt nach Hause. Wir sind für viele Migranten unmittelbare Ansprechpartner, oftmals bilden sich nach dem Unterricht regelrechte Schlangen. Einem Teilnehmenden einen Brief zu übersetzen und zu erklären, dass er seine Stromrechnung zahlen muss, gehört zu den vergleichsweise leichten Herausforderungen. Als mir jedoch ein Teilnehmer sagte: „Meine Kinder sind aus Syrien da. Wo muss ich mit ihnen hin?“, war ich erst mal ratlos. Niemand hat uns auf solche Aufgaben vorbereitet. Jeden Tag ist man mit neuen Fragen oder Problemen konfrontiert. Auf die Nachfrage „Warum warst du gestern nicht im Unterricht?“ bekommt man mitunter Antworten wie „Mein Mann wurde in der Flüchtlingsunterkunft verprügelt.“ In solchen Situationen ist es schwer, einfach mit der Konjugation eines Verbs weiterzumachen.

„Für viele ist klar: Die Qualität des Unterrichts wird darunter leiden“

Trotz dieser enormen Anforderungen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angesichts der gestiegenen Nachfrage nach Integrationskursen am 1. September dieses Jahres die Zulassungskriterien für Lehrpersonen sogar noch gelockert – zunächst auf ein Jahr beschränkt. So ist zum Beispiel eine zuvor geforderte Zertifizierung im Bereich „Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache“ jetzt nicht mehr erforderlich, sind interkulturelle Kompetenzen damit keine Voraussetzung mehr. Für viele ist klar: Die Qualität des Unterrichts wird darunter leiden.

Marina und Inna sind mit den Aufgaben fertig. Sie unterhalten sich – nur leider nicht auf Deutsch. Sie sprechen beide fließend Russisch. „Hallo?? Wir reden hier Deutsch“ – mein Standardspruch. Marina hebt entschuldigend die Arme: „Das kommt einfach automatisch“, erklärt sie. Der 19-jährige Syrer Faisal grinst – ich habe mal nicht ihn ermahnt, weil er andauernd Kurdisch spricht. Faisal wollte eigentlich in seiner Heimatstadt Amude eine Ausbildung zum Friseur machen, doch dann kam der Krieg. Im Sommer 2014 floh er mit seinem Bruder, sechs Tage haben sie in einem Lkw-Anhänger verbracht, um von der Türkei nach Deutschland zu kommen. Jetzt lernt er viermal in der Woche Deutsch. „In Syrien ist alles kaputt. Da gibt es keine Zukunft mehr für mich. Ich will hierbleiben, hier meine Ausbildung machen“, sagt Faisal.

„Sie müssen den Test 'Leben in Deutschland' erfolgreich absolvieren“

Motiviert sind die meisten Teilnehmenden. Dass manche von ihnen von einem auf den anderen Tag nicht mehr im Kurs auftauchen, hat oft andere Gründe: Sie haben einen Job gefunden. Die Verpflichtung zur Teilnahme am Kurs kann in einem solchen Fall widerrufen werden. Die Teilnehmenden wollen ihr eigenes Geld verdienen. Verstehen kann man das nur allzu gut. Aber begrüßen? Nicht selten nehmen sie Jobs an, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Und sie vernachlässigen das Lernen der Sprache. Fraglich, ob sie sich auf anderen Wegen fortgeschrittene Sprachkenntnisse aneignen und sich langfristig gut in Deutschland integrieren können.

Dafür sollten sie den Integrationskurs besser erfolgreich abschließen. Voraussetzung: Sie müssen bei der Sprachprüfung „Deutsch-Test für Zuwanderer“ (DTZ) beweisen, dass sie das Niveau B1 erreicht haben. Und sie müssen den Test „Leben in Deutschland“ erfolgreich absolvieren, der aus verschiedenen Fragen, zum Beispiel zum politischen System Deutschlands, besteht. Es ist so einiges, was den Migranten vermittelt werden soll.

Um 12 Uhr hole ich trotzdem die kleine lilafarbene Tröte hervor. In der letzten Viertelstunde steht „Tabu“ auf dem Stundenplan. Das beliebte Partyspiel ist ein wunderbares Vokabeltraining, denn dabei muss unter Zeitdruck ein Begriff erklärt werden. Besondere Schwierigkeit: Für die Erklärung dürfen bestimmte Wörter nicht benutzt werden. Mein Kurs liebt das Spiel. Da wissen wirklich alle sofort, was zu tun ist.

Für wen sind Integrationskurse?

Migranten, die ihren ersten Aufenthaltstitel nach dem 1. Januar 2005 erhalten haben und dauerhaft in Deutschland leben, haben einen gesetzlichen Anspruch auf die Teilnahme an einem Integrationskurs. Verpflichtend ist ein Integrationskurs für Migranten, die ihre Aufenthaltserlaubnis nach dem 1. Januar 2005 bekommen haben und sich nicht auf einfache beziehungsweise ausreichende Art auf Deutsch verständigen können. Auch anerkannte Flüchtlinge, die einen Aufenthaltstitel für die Dauer von zunächst drei Jahren haben, erhalten Zugang zu den Integrationskursen.

Keinen Anspruch darauf haben Flüchtlinge, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind und noch nicht als solche anerkannt sind. Sie sind auf anderweitig organisierte Sprachkurse angewiesen, zum Beispiel von Kommunen oder Ehrenamtlichen. Aufgrund des beschleunigten Asylverfahrens bekommen vor allem Menschen aus Syrien sehr schnell den Flüchtlingsstatus zuerkannt und können aus diesem Grund auch bald nach ihrer Ankunft einen Integrationskurs besuchen. EU-Bürger haben keinen gesetzlichen Anspruch auf die Teilnahme. Das BAMF kann sie aber zulassen, wenn sie noch nicht ausreichend Deutsch sprechen und es freie Kursplätze gibt.

Ann-Kristin Schöne ist Volontärin bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Vorher arbeitete sie ein Jahr lang als Kursleiterin in Integrationskursen. Die Gespräche mit Marina, Inna und Faisal führte sie natürlich auf Deutsch.